Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesamtschuldnerausgleich bei nachentrichteter Lohnsteuer. Regresspflicht des Arbeitnehmers bei nachträglich durch den Arbeitgeber gezahlte Lohnsteuer. Keine Einwendungen gegen Lohnsteuernachzahlung im arbeitsgerichtlichen Regressverfahren. Fristbeginn für die Anfechtung eines Haftungsbescheids. Unbeachtliches Mitverschulden des Arbeitgebers bei der Abführung von Lohnsteuer. Kein Verzug bei Mahnung vor Fälligkeit der Leistung
Leitsatz (amtlich)
1. Hat der Arbeitgeber zu wenig Lohnsteuer von den Einkünften des Arbeitnehmers einbehalten und an das Finanzamt abgeführt, kann er bis zur Inanspruchnahme durch das Finanzamt vom Arbeitnehmer Freistellung von etwaigen Nachforderungen verlangen und nach Inanspruchnahme die Erstattung der gezahlten Lohnsteuern im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs. Im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs haftet der Arbeitnehmer im Innenverhältnis voll.
2. Die Regresspflicht des Arbeitnehmers besteht unabhängig davon, ob der Arbeitgeber freiwillig oder auf Grund eines Haftungsbescheids die Steuernachforderung für den Arbeitnehmer erfüllt.
3. Einwendungen des Arbeitnehmers gegen die Feststellungen eines Haftungsbescheids sind im arbeitsgerichtlichen Regressverfahren - abgesehen von Fällen der offenkundigen Unrichtigkeit der steuerrechtlichen Bewertung - grundsätzlich nicht zulässig. Entsprechendes gilt bei einer freiwilligen Nachentrichtung von Lohnsteuer.
4. Allein durch die Bekanntgabe eines Haftungsbescheids an den Arbeitgeber wird keine Frist für die öffentlich-rechtliche Anfechtung des Bescheids durch den Arbeitnehmer in Gang gesetzt. Die unterbliebene oder verzögerte In-Kenntnis-Setzung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber bezüglich Existenz oder Inhalt eines Haftungsbescheids kann nicht zum Verlust des Anfechtungsrechts des Arbeitnehmers führen.
5. Ein Sorgfaltspflichtverstoß des Arbeitgebers bei der Abführung von Lohnsteuer ist für die Regresspflicht des Arbeitnehmers ohne Relevanz. § 254 BGB findet keine Anwendung.
6. Ein solcher Sorgfaltspflichtverstoß des Arbeitgebers kann zu Schadensersatzansprüchen des Arbeitnehmers führen. Die Lohnsteuer selbst stellt dabei jedoch keinen ersatzfähigen Schadensposten dar.
7. Das Einverständnis des Arbeitgebers mit einem gegen ihn ergangenen Haftungsbescheid stellt keinen Vertrag mit dem Finanzamt zu Lasten des Arbeitnehmers dar.
8. Einer vor Fälligkeit erfolgten Mahnung kommt auch nach dem Eintritt der Fälligkeit keine verzugsbegründende Wirkung zu.
Normenkette
EStG § 42d; AO § 44; BGB §§ 426, 254; AO §§ 347, 3456 Abs. 2; BGB §§ 195, 199 Abs. 1, § 214 Abs. 1, §§ 242, 273, 280
Verfahrensgang
ArbG Mannheim (Entscheidung vom 28.07.2022; Aktenzeichen 14 Ca 71/21) |
Tenor
I.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim - Kammern Heidelberg - vom 28.07.2022 - Az. 14 Ca 71/21 - in Ziffer 1 wie folgt abgeändert:
- Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 77.787,32 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 15.627,78 EUR seit 13.04.2021 und aus 62.159,54 EUR seit 27.04.2021 zu bezahlen.
II.
Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
III.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Erstattung nachentrichteter Lohnsteuer.
Der Beklagte war bei der Klägerin von 1. Oktober 2012 bis 31. Januar 2022 als Customer Service Manager beschäftigt.
Der Arbeitsvertrag zwischen den Parteien vom 9. November 2012 lautete auszugsweise wie folgt:
"3. Vergütung
3.1. Die Vergütung beträgt EUR 4.615,38 monatlich, fällig im Nachhinein zum Ende eines jeden Monats
...
3.3. Alle Vergütungsbestandteile werden bargeldlos bezahlt und sind Bruttoleistungen.
...
8. Ausschlussfrist
8.1 Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten gegenüber der anderen Partei schriftlich geltend gemacht werden. Die Versäumung der Ausschlussfrist führt zum Verlust des Anspruchs. Die Ausschlussfrist beginnt, wenn der Anspruch fällig ist und der Anspruchsteller von anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Diese Ausschlussfrist gilt nicht bei Haftung wegen Vorsatzes.
8.2 Lehnt die Gegenpartei den Anspruch schriftlich ab oder erklärt sich nicht innerhalb von einem Monat nach Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von drei Monaten nach der Ablehnung oder nach Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird. ... "
Der Änderungsvertrag vom 30. Januar 2020 lautete auszugsweise wie folgt:
"3. Vergütung
3.1. Das feste Jahresgehalt des Arbeitnehmers beträgt auf der Basis von 13 Monaten EUR 64.800 Brutto.
...
3.6 Alle Vergütungsbestandteile werden bargeldlos bezahlt und sind Bruttoleistungen."
Nummer 10 des Änderungsvertrags enthielt weiterhin eine zweistufige Ausschlussfrist.
Der Beklagte ist Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika und war vor der Tätigkeit für die Klägerin ...