Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflicht zur datenschutzkonformen Durchführung des bEM-Verfahrens. Besondere Anforderungen an Freiwilligkeit der Einwilligung des Arbeitnehmers in Übermittlung personenbezogener Daten an nicht am bEM-Verfahren beteiligte Dritte. Fehlvorstellungen des Arbeitnehmers bei Kenntnis des Datenschutzhinweises zu Lasten des Arbeitgebers. Übermittlung von Gesundheitsdaten des Arbeitnehmers an Arbeitgeber im Rahmen des bEM-Verfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. Aus § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) folgt nicht nur, dass der Arbeitnehmer auf die Art und den Umfang der im betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen ist. Vielmehr ergibt sich hieraus auch, dass die Datenverarbeitung datenschutzkonform zu erfolgen hat.
2. Die Erreichung der Ziele des bEM erfordert nicht, dass nicht im bEM-Verfahren beteiligten Vertretern des Arbeitgebers vom Arbeitnehmer im Verfahren mitgeteilte Diagnosedaten bekanntzumachen wären. Wenn dem Arbeitnehmer im Rahmen des § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) dennoch eine Einwilligung in eine solche Datenoffenlegung abverlangt wird, ist im besonderen Maße auf die Freiwilligkeit hinzuweisen.
3. Wird in dem Hinweis über die Datenerhebung und Datenverwendung der fälschliche Eindruck erweckt, dass Gesundheitsdaten an Vertreter des Arbeitgebers weitergegeben werden können, die nicht am bEM-Verfahren beteiligt sind, geht dies zu Lasten des Arbeitgebers. Die vom Arbeitgeber verursachte Fehlvorstellung steht einer ordnungsgemäßen Einleitung des bEM entgegen. (Bestätigung und Fortentwicklung von LAG Baden-Württemberg 28.07.2021 - 4 Sa 68/20 -)
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2; SGB IX § 167 Abs. 2; DSGVO Art. 4 Nr. 15, Art. 9 Abs. 1, Art. 7 Abs. 4; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Reutlingen (Entscheidung vom 19.11.2020; Aktenzeichen 1 Ca 108/20) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 19.11.2020 (1 Ca 108/20) wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen, krankheitsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers sowie hilfsweise über eine Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der am 00.00.0000 geborene, ledige und kinderlose Kläger ist bei der Beklagten in deren Betrieb in R. seit 11. August 2014 beschäftigt als Produktionsfacharbeiter (EG 7 ERA) zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsentgelt iHv. zuletzt 3.442,73 Euro.
Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in R. ca. 8.000 Mitarbeiter. Ein Betriebsrat ist in diesem Betrieb gebildet.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 5. März 2020, dem Kläger am selben Tag zugegangen, ordentlich zum 30. Juni 2020. Gegen diese Kündigung richtet sich die vorliegende Kündigungsschutzklage, die am 25. März 2020 beim Arbeitsgericht einging.
Die Beklagte stützt die Kündigung auf krankheitsbedingte Gründe.
Der Kläger war im Jahr 2016 an insgesamt 31,7 Arbeitstagen, im Jahr 2017 an insgesamt 51 Arbeitstagen, im Jahr 2018 an insgesamt 42 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an insgesamt 43 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank. Für sämtliche Fehltage war die Beklagte entgeltfortzahlungspflichtig. Im Jahr 2020 bis zum Ausspruch der Kündigung war der Kläger erneut arbeitsunfähig krank von 6. Januar bis 10. Januar 2020. Auch hierfür hatte die Beklagte Entgeltfortzahlung zu leisten.
Die Beklagte hat den Kläger mit Schreiben vom 20. Januar 2020 (Bl. 58 und 59 der arbeitsgerichtlichen Akte) zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) eingeladen. Auf diese Einladung hat der Kläger, wie auch schon auf vergangene Einladungen, nicht reagiert.
Bei der Beklagten besteht eine zwischen ihr und dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarung über das betriebliche Eingliederungsmanagement (BV-bEM) (Bl. 110-115 der arbeitsgerichtlichen Akte), ergänzt durch eine zwischen der Beklagten und dem örtlichen Betriebsrat R. abgeschlossene "Vereinbarung zum BEM-Verfahren am Standort R." (Bl. 116 der arbeitsgerichtlichen Akte). Zu den Beteiligten des bEM heißt es in der BV-bEM auszugsweise:
3. Beteiligte
3.1 Betriebliches Eingliederungsteam
Das betriebliche Eingliederungsteam (BET) besteht aus benannten Vertretern der Personalabteilung, des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung, des MED und des HSS. Der angeschriebene Mitarbeiter kann zusätzlich zum betreuenden HR BP aus den Mitgliedern des BET grundsätzlich eine weitere Person hinzuziehen.
3.2 Integrationsteam
Wenn Anpassungen des Arbeitsplatzes, -prozesses oder der -bedingungen erforderlich sind, kann das Integrationsteam - sofern vorhanden - hinzugezogen werden. Hierfür ist das Einverständnis des MA notwendig (Anlage 4). Erteilt der MA sein Einverständnis nicht, führt das BET das BEM mit den dem BET möglichen Maßnahmen fo...