Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Beihilfe im Krankheitsfall nach Teilkündigung einer Gesamtbetriebsvereinbarung. Bestimmtheit der Erklärung zur Nachwirkung von Beihilfeleistungen. Anspruch auf betriebliche Übung bei Beihilfeleistungen im Krankheitsfall. Keine betriebliche Übung aufgrund von irrigem Normvollzug
Leitsatz (amtlich)
1. Abweichende Entscheidung zum Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20.10.2022 - 18 Sa 138/22.
2. Den klagenden Arbeitnehmer standen die Beihilfen im Krankheitsfall aufgrund einer wirksamen Teilkündigung der diesbezüglichen Bestimmungen in der Vereinsordnung, welche zuletzt als Gesamtbetriebsvereinbarung normative Wirkung entfaltete, nicht mehr zu.
3. Eine Nachwirkung der Bestimmungen in der Vereinsordnung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG scheidet aus, weil der Arbeitgeber den Dotierungsrahmen der Beihilfeleistungen mitbestimmungsfrei auf Null reduzieren konnte.
4 . Die Betriebsparteien hatten keine Nachwirkung vereinbart. Soll eine gesetzlich nicht vorgesehene Nachwirkung vereinbart werden, so muss dies unmissverständlich erklärt werden. Daran fehlte es.
5. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung aufgrund tatsächlich weiterhin gewährter Beihilfeleistungen im Krankheitsfall scheidet aus, weil die Kläger das Verhalten der Beklagten nur als irrigen Normvollzug verstehen durften. Selbst in den Kreisen der Betriebsräte wurde von einer Nachwirkung der Beihilferegelungen ausgegangen.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 4, 6, § 51 Abs. 5; BGB § 613a Abs. 1; ZPO § 253 Abs. 2, § 256 Abs. 1; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 10; ZPO § 91 Abs. 1, § 100 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Essen (Entscheidung vom 01.10.2021; Aktenzeichen 4 Ca 1139/21) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 01.10.2021; Aktenzeichen Ca 1174/21) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 18.11.2021; Aktenzeichen 1 Ca 1333/21) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 13.01.2022; Aktenzeichen 1 Ca 1915/21) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 31.01.2022; Aktenzeichen 6 Ca 2108/21) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 17.05.2022; Aktenzeichen 2 Ca 137/22) |
Tenor
Auf die Berufungen der Beklagten werden die Urteile des Arbeitsgerichts Essen
vom 01.10.2021 - Az.: 4 Ca 1139/21 - (Kläger zu 1.)
vom 01.10.2021 - Az.: 4 Ca 1174/21 - (Kläger zu 2.),
vom 18.11.2021 - Az.: 1 Ca 1333/21 - (Kläger zu 3.),
vom 13.01.2022 - Az.: 1 Ca 1915/21 - (Kläger zu 4.),
vom 31.01.2022 - Az.: 6 Ca 2108/21 - (Kläger zu 5.) und
vom 17.05.2022 - Az.: 2 Ca 137/22 - (Kläger zu 6.)
abgeändert. Die Klagen werden abgewiesen.
- Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger zu je 1/6.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Klägern Beihilfen im Krankheitsfall (Zuschüsse zu Krankheitskosten) nach Maßgabe einer Gesamtbetriebsvereinbarung vom 15.12.1978 (im Folgenden Vereinsordnung) zu gewähren.
In der Vereinsordnung, die zwischen dem GT. e.V. (im Folgenden GT. e.V.) und dem bei ihm gebildeten Gesamtbetriebsrat geschlossen wurde und wegen deren Inhalts im Einzelnen auf Blatt 128 ff. der Akte Bezug genommen wird, ist unter anderem bestimmt:
"Teil I: ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN
1. Geltungsbereich
Die Vereinsordnung gilt für alle Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes (mit Ausnahme der Leitenden Angestellten gemäß § 5 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes sowie mit Ausnahme der Auszubildenden gemäß Berufsbildungsgesetz, Leihkräfte und Praktikanten) - im folgenden Mitarbeiter genannt.
2. Inkrafttreten und Kündigung
2.1. Die Vereinsordnung tritt am 1. Januar 1979 in Kraft.
2.2. Die Vereinsordnung oder Teile der Vereinsordnung können mit einer Frist von drei Monaten zum Endes eines Kalendervierteljahres gekündigt werden. Die Kündigung bedarf der Schriftform.
2.3. Unberührt bleibt das Recht, auch ohne Kündigung die Bestimmungen der Vereinsordnung im beiderseitigen Einverständnis zu ändern.
2.4 .Die Vereinsordnung des GT. e. V. vom 26. Juni 1964 in der Fassung vom 1. Januar 1972 tritt am 31. Dezember 1978 außer Kraft.
3. Nachwirkung
Die Bestimmungen der Vereinsordnung gelten über den Zeitpunkt, in welchem die Vereinsordnung endet, hinaus so lange weiter, bis eine neue Vereinbarung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat getroffen ist.
...
Teil IV: BEIHILFEN
34. Beihilfe im Krankheitsfall
34.1. Der Verein gewährt den Mitarbeitern im Falle von Krankheit Beihilfen zu den Kosten der ambulanten Arztbehandlung und zu den Aufwendungen für ärztlich verordnete Heilmittel (einschl. Zahnbehandlung und Zahnersatz).
Beihilfen zu den Krankenhauskosten gewährt der Verein nur Mitarbeitern, die in der Vergütungsgruppe A 08 oder höher eingruppiert sind sowie solchen Mitarbeitern, die 10 Jahre oder länger beim Verein tätig sind.
34.2.Voraussetzungen für eine Beihilfengewährung sind:
a) daß der Mitarbeiter unter den Geltungsbereich der Vereinsordnung fällt,
b) daß der Mitarbeiter zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Jahr dem Verein angehört hat und daß er mindestens 15 Std./Woche tätig ist,
c) daß der Mitarbeiter für sich und seine beihilfeberechtigten Familienangehörigen (Ehegatte und kindergeldberechtigte Kinder)...