Entscheidungsstichwort (Thema)
Hoher Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Abgestufte Darlegungs- und Beweislast beim Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess
Leitsatz (redaktionell)
1. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
2. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
3. Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so ist es dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist sein substantiierter Vortrag erforderlich.
4. Nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben die Tatsacheninstanzen unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer ggf. durchgeführten Beweisaufnahme nach ihrer freien Überzeugung darüber zu befinden, ob sie eine tatsächliche Behauptung für wahr erachten oder nicht. Die Beweiswürdigung muss vollständig, widerspruchsfrei und umfassend sein. Mögliche Zweifel müssen überwunden, aber nicht völlig ausgeschlossen sein.
Normenkette
EntgFG § 3 Abs. 1 S. 1, § 5 Abs. 1 S. 2, § 7 Abs. 1 Nr. 1; ZPO § 286 Abs. 1, § 292
Verfahrensgang
ArbG Lübeck (Entscheidung vom 23.11.2022; Aktenzeichen 5 Ca 973/22) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 23.11.2022 - 5 Ca 973/22 - abgeändert:
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 376,80 € brutto Urlaubsabgeltung sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit 20.04.2022 zu zahlen.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits zu 90 %, die Beklagte zu 10 % (I. und II. Instanz)
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung für die Zeiträume vom 05.05. bis 31.05.2022 in unstreitiger Höhe von 2.044,78 € brutto und vom 01.06. bis 15.06.2022 in unstreitiger Höhe von 1.232,94 € brutto und erstinstanzlich über die Abgeltung weiterer Urlaubstage.
Die Klägerin war aufgrund eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 28.03. 2019 seit dem 01.05.2019 bis 15.06.2022 als Pflegeassistentin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete durch ordentliche Eigenkündigung der Klägerin.
Der Wortlaut der Kündigung vom 04.05.2022 lautet wie folgt:
"Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit kündige ich das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis vom 01.05.2019 unter Einhaltung der maßgeblichen gesetzlichen Kündigungsfrist von vier Wochen ordentlich und fristgerecht zum 15.06.2022.
Nach meiner Rechnung stehen mir noch 11 Tage Urlaub von diesem Jahr zu und noch 6 Tage von letzten Jahr. Hiermit beantrage ich Urlaub vom 01.06.2022-15.06.2022 (11 Tage). Die restlichen Urlaubstage verrechnen sie bitte mit meiner letzten Gehaltsabrechnung.
Bitte senden Sie mir eine Bestätigung des Erhalts dieses Briefes, meine Arbeitspapiere sowie ein qualifiziertes Arbeitszeugnis an die oben aufgeführte Adresse.
Ich bedanke mich für die bisherige Zusammenarbeit und wünsche ihren Unternehmen alles Gute."
Die Klägerin erkrankte vom
- 05.05. bis 11.05., festgestellt am 05.05.2022
- sodann bis 15.05., festgestellt am 10.05.2022 (Folgebescheinigung)
- sodann vom 12.05.2022 bis 22.05.2022, festgestellt am 12.05.2022 (Erstbescheinigung)
- sodann bis 05.06.2022, festgestellt am 19.05.2022 (Folgebescheinigung)
- sodann bis 15.06.2022, festgestellt am 07.06.2022 (Folgebescheinigung)
arbeitsunfähig, was durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die der Beklagten vorliegen, von dem die Klägerin behandelnden Arzt Dr. S. am 05.05., 10.05., 16.05., 27.05., 05.06. und 07.06.2022 attestiert ist. Die Beklagte zahlte für den Zeitraum vom 05.05.2022 bis zum 15.06.2022 keine Entgeltfortzahlung an die Klägerin.
Die Beklagte rechnete mit der Lohnabrechnung für den Monat Mai 2022 (Anlagenkonvolut B1, Bl. 81 d. A.) gegenüber der Klägerin 11 Tage Urlaubsabgeltung i.H.v. 1.188,00 € brutto ab und leistete entsprechende Zahlung an die Klägerin.
Die Klägerin hat behauptet, dass sie die Eigenkündigung am 05.05.2022 verfasst und am 11.05.2022 persönlich der Beklagten übergeben habe. Sie sei im Zeitraum vom 05.05.2022 bis einschließlich 15.06.2022 arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Das Krankheitsbild sei eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit infolge arbeitsplatzspezifi...