Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Familienversicherung. rückwirkende Beendigung der Familienversicherung seitens der Krankenkasse. Überschreitung der Einkommensgrenze. Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Einkommensteuerbescheid. Zulässigkeit einer Prognoseentscheidung. keine Berücksichtigung von fiktiven Einkünften unter dem Gesichtspunkt der sozialen Schutzbedürftigkeit von Familienmitgliedern. Der Senat hat die Revision zugelassen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Familienversicherung in der Vergangenheit bestand oder nicht, ist zwischen den materiellen Voraussetzungen der Familienversicherung und der Berechtigung der Krankenkasse zur (rückwirkenden) Beendigung einer Familienversicherung zu unterscheiden (vgl BSG vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R = SozR 3-2500 § 10 Nr 19).
2. Für eine Prognoseentscheidung ist nur Raum, wenn es um die rückwirkende Beendigung der Familienversicherung für Zeiträume geht, in denen nachweislich die materiellen Voraussetzungen für eine Familienversicherung nicht bestanden haben, weil tatsächlich ein höheres Einkommen erzielt wurde.
Orientierungssatz
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Familienmitglieds darf nicht bloß vermutet oder unterstellt werden, sondern muss tatsächlich vorliegen. Der Gesichtspunkt der sozialen Schutzbedürftigkeit schließt die Berücksichtigung eines nur fiktiven Einkommens bei der Beurteilung der Familienversicherung aus.
Tenor
Die Berufungen der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 30.04.2020 werden zurückgewiesen.
Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Beendigung der Familienversicherung für die Zeit vom 01.07.2016 bis zum 30.09.2017 sowie eine Beitragsforderung der Beklagten für diesen Zeitraum streitig.
Die 1965 geborene Klägerin war bei der Beklagten zu 1) bis zum 30.06.2015 freiwillig krankenversichert. Sie übte eine selbständige Tätigkeit aus, nach eigenen Angaben im Jahr 2015 im Umfang von zehn bis fünfzehn Wochenstunden.
Das Finanzamt L berücksichtigte in den Bescheiden über die Einkommensteuer folgende Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb als Einzelunternehmerin:
- Bescheid vom 23.06.2015 für das Jahr 2013: 2.523,00 € (entsprechend monatlich 210,25 €),
- Bescheid vom 09.06.2016 für 2014: 5.792,00 € (entsprechend monatlich 482,67 €),
- Bescheid vom 25.09.2017 für das Jahr 2015: 894,00 € (entsprechend monatlich 74,50 €),
- Bescheid vom 19.07.2018 für das Jahr 2016: 2.158,00 € (entsprechend monatlich 179,83 €),
- Bescheid vom 12.09.2019 für das Jahr 2017: 3.562,00 € (entsprechend monatlich 296,83€).
Am 27.07.2015 bat der bei der Beklagten zu 1) krankenversicherte Ehemann der Klägerin, der Beigeladene zu 1), um Prüfung, ob eine rückwirkende Familienversicherung möglich sei. In dem Formular „Angaben zur Feststellung der Familienversicherung“ gab er an, dass die Klägerin ein monatliches Bruttoeinkommen in Höhe von ca. 210,00 € erziele. Die Eheleute legten der Beklagten zu 1) den Bescheid des Finanzamtes über die Einkommenssteuer vom 23.06.2015 vor.
Mit Schreiben vom 31.07.2015 bestätigte die Beklagte zu 1) dem Ehemann der Klägerin: „Ab dem 01.07.2015 genießt Ihre Ehefrau E. den vollen Leistungsumfang Ihrer mhplus.“. Beigefügt war ein Informationsblatt zum Thema „Familienversicherung“. Im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Familienversicherung gaben die Eheleute am 27.09.2016 an, dass keine Änderung zum Vorjahr eingetreten sei. Am 30.10.2017 legten sie den Bescheid über Einkommensteuer für 2015 vom 25.09.2017 vor. Am 20.11.2017 teilten sie mit, dass die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit im Umfang von höchstens neun Wochenstunden ausübe, und legten den Bescheid über Einkommensteuer für 2014 vom 09.06.2016 vor.
Mit Bescheid vom 05.04.2018 führte die Beklagte zu 1) - auch im Namen der Beklagten zu 2) - die Mitgliedschaft als freiwillige Versicherung vom 01.07.2016 bis zum 30.09.2017 fort, setzte für die Zeit ab 01.07.2016 monatliche Beiträge in Höhe von 171,40 € und ab 01.01.2017 in Höhe von 177,51 € fest und informierte die Klägerin über Beitragsrückstände für die Zeit vom 01.07.2016 bis zum 30.09.2017 in Höhe von 2.625,99 €. Nach Anhörung (Schreiben vom 20.11.2017) beendete die Beklagte zu 1) mit Bescheid vom 26.04.2018 die Familienversicherung für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis 30.09.2017, da nach dem entsprechenden Ausstellungsdatum der Einkommensteuerbescheide die Einkommensgrenze in diesem Zeitraum überschritten worden sei. Gegen beide Bescheide legte die Klägerin Widerspruch ein.
Die Beklagte zu 1) wies - auch im Namen der Beklagten zu 2) - die Widersprüche der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 14.11.2018 als unbegründet zurück. Bei der Frage, ob die für die Familienversicherung maßgebende Gesamteinkommensgrenze überschritten werde, sei eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt. Dies erfordere eine Prognose unter Einbeziehung ...