Rz. 46
Es gibt Fallgestaltungen, in denen der Arbeitnehmer aufgrund seiner Erkrankung nur teilweise nicht in der Lage ist, seine geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Zu unterscheiden sind folgende Fälle:
- Der Arbeitnehmer ist nicht in der Lage, die geschuldete Leistung in vollem zeitlichen Umfang zu erbringen (quantitative Teilarbeitsunfähigkeit).
- Der Arbeitnehmer kann einige, aber nicht sämtliche zu seinem Arbeitsplatz gehörende Tätigkeiten erbringen (qualitative Teilarbeitsunfähigkeit).
Rz. 47
Das EFZG kennt keine teilbare oder teilweise Arbeitsunfähigkeit. Im ersten Fall der quantitativen Teilarbeitsunfähigkeit verneint die Rechtsprechung daher auch die Möglichkeit einer Teilarbeitsunfähigkeit und billigt dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG in vollem Umfang zu. Für diese Ansicht spricht nicht nur § 3 EFZG selbst, sondern auch die Regelung zur Wiedereingliederungsmaßnahme. Denn in diesen besonderen Fällen der Teilarbeitsfähigkeit geht auch § 74 SGB V von einem Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit i. S. d. EFZG aus. Der Arbeitnehmer, der seine geschuldete Arbeitsleistung nicht (voll) erbringen kann, ist arbeitsunfähig erkrankt und hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Rz. 48
Anders ist die Rechtslage in den Fällen der qualitativen Teilarbeitsunfähigkeit zu beurteilen. Der Arbeitgeber kann durch Zuweisung einer Tätigkeit, die der Arbeitnehmer trotz seiner Erkrankung erbringen kann, die volle Arbeitsfähigkeit herstellen – ähnlich der mutterschutzrechtskonformen anderweitigen Beschäftigung der werdenden Mutter. Erfolgt eine solche Zuweisung, ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ausgeschlossen. Für diesen Ansatz spricht der Grundsatz, dass zwischen einer Erkrankung und einer daraus folgenden Arbeitsunfähigkeit zu unterscheiden ist. Konsequenterweise muss auch – im arbeitsvertraglich zulässigen Umfang – die Anpassung der Tätigkeit an die Krankheit möglich sein, um ggf. eine Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. Soweit daher der Arbeitnehmer mit der Änderung des Aufgabenbereichs einverstanden ist oder die Änderung vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt ist, können für den Zeitraum der Krankheit Tätigkeiten zugewiesen werden, an deren Ausübung der Arbeitnehmer nicht gehindert ist.
Rz. 49
In der praktischen Abwicklung kann dies zwar zu Komplikationen führen, da eine Rückkopplung zwischen der Arbeitsplatzgestaltung durch den Arbeitgeber und der Beurteilung des Arztes zur Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit erforderlich wird. In den Fällen jedoch, in denen eine Krankheit nicht jede Arbeitstätigkeit ausschließt, hat der Arzt sowieso auf die konkrete Arbeitssituation des Arbeitnehmers abzustellen. Eine Anpassung der Arbeitsumgebung und -tätigkeit an das Krankheitsbild führt daher nicht zu wesentlichen Verfahrenserschwerungen.
Rz. 50
Die Bestimmung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers ist davon abhängig, ob der Arbeitgeber von dem Direktionsrecht auch wirksam Gebrauch macht. Die bloße Möglichkeit einer anderen Beschäftigung steht der Entgeltfortzahlung noch nicht entgegen.
Arbeitnehmerin A arbeitet als Telefonistin im Empfang eines großen Unternehmens. In ihrem Arbeitsvertrag ist der Tätigkeitsbereich mit "Bürotätigkeiten" umschrieben. Aufgrund einer Erkältung ist sie in einem solchen Maß heiser, dass sie keine Telefonate mehr durchführen kann. Für den Zeitraum der Erkrankung weist der Arbeitgeber ihr Aufgaben im Schreibpool zu. Die Krankheit führt hier nicht zu einer Arbeitsunfähigkeit. A ist zur Arbeitsleistung verpflichtet; bleibt sie gleichwohl zu Hause, hat sie keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung und verletzt ihre Leistungspflichten.