Sachverhalt 1
Eine Arbeitnehmerin erkrankte im Lauf des Kalenderjahres 2017. Zu diesem Zeitpunkt waren noch 14 Urlaubstage offen. Seitdem war sie arbeitsunfähig krank. Der Arbeitgeber hatte sie nicht darauf hingewiesen, dass Urlaubsansprüche verfallen könnten. Es entstand Streit, ob der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 mit Ablauf von 15 Monaten nach Ende dieses Kalenderjahres (also mit Ablauf des 31.3.2019) erlosch.
Hatte die Arbeitnehmerin noch Anspruch auf diesen Urlaub?
Ergebnis 1
Das BAG legte den Fall dem EuGH vor mit der Frage:
Gestattet das Unionsrecht den Verfall nach Ablauf der 15-Monatsfrist (oder ggf. einer längeren Frist) auch dann, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können?
Sachverhalt 2
Ein schwerbehinderter, als Frachtfahrer tätiger Arbeitnehmer bezog seit Dezember 2014 Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis einschließlich August 2021 verlängert wurde. Er machte u. a. bei Gericht geltend, ihm stünden noch 34 Urlaubstage aus dem Jahr 2014 zu. Diese seien nicht verfallen, weil der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen sei. Der Arbeitgeber vertrat die Auffassung, diese Ansprüche seien spätestens am 31.3.2018 erloschen.
Ergebnis 2
Das BAG legte den Fall ebenfalls dem EuGH vor und führte aus:
Für die Entscheidung bedarf es der Klärung durch den EuGH, ob Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf von 15 Monaten oder ggf. längerer Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung zumindest teilweise hätte nehmen können.
Der EuGH entschied am 22.9.2022 und führte aus: Unionsrecht stünde einer nationalen Regelung entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für einen Zeitraum, in dem tatsächlich gearbeitet worden sei, bevor die fortgesetzte Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei, auch dann erlöschen könne, wenn der Arbeitgeber zuvor seiner Hinweisobliegenheit nicht genügt habe.
Dem ist das BAG gefolgt und hat am 20.12.2022 entschieden, dass auch bei Langzeiterkrankten die Befristung des Urlaubsanspruchs regelmäßig voraussetze, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheit in die Lage versetzt habe, den Urlaub auch tatsächlich zu nehmen.
Sachverhalt 3
Ein Monteur war das komplette Kalenderjahr (= Urlaubsjahr) arbeitsunfähig erkrankt und war der Ansicht, der dafür erworbene Urlaubsanspruch sei auch nach Ablauf von 15 Monaten nicht verfallen, weil der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen sei.
Ergebnis 3
Hier entschied das BAG, der Anspruch auf Urlaub verfalle bei einem Langzeiterkrankten nach Ablauf von 15 Monaten jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer das ganze Jahr ununterbrochen arbeitsunfähig sei und deshalb seinen Urlaub trotz unterlassener Hinweisobliegenheit ohnehin nicht hätte nehmen können.
Sachverhalt 4
Ein Arbeitnehmer war ab 18.1.2016 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses im Februar 2019 arbeitsunfähig krank. Er verlangte Urlaubsabgeltung für 2016, weil der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht genügt habe.
Ergebnis 4
Nach dem BAG war die Klage teilweise begründet. Die 15-monatige Verfallfrist bei Langzeiterkrankung könne ausnahmsweise unabhängig von der Mitwirkungsobliegenheit beginnen, wenn die Arbeitsunfähigkeit so früh im Jahr eintrete, dass es dem Arbeitgeber überhaupt nicht möglich sei, zuvor seinen Obliegenheiten nachzukommen. Der Arbeitgeber hat für den Hinweis die erste Woche des Kalenderjahres (= Urlaubsjahres) Zeit. Zudem kann nur erhalten bleiben, was auch hätte genommen werden können. Das bedeutet, dass im vorliegenden Fall der Arbeitnehmer für die Zeit bis einschließlich 17.1.2016 hätte Urlaub nehmen können, weshalb ihm diese Zeit wegen der unterlassenen Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers abgegolten werden musste.