Der folgende Ablauf zeigt ein Vorgehensmodell, mit dem wir von einer groben Wahrnehmung eines Prozesses zu einem passenden digitalen Prozess im Sinne der prozessgesteuerten Digitalisierung (siehe oben) gelangen. Aber auch ohne den Einsatz einer Process Engine sind die meisten Schritte zur Prozessbearbeitung die gleichen.
6.1 Prozess verstehen
Meistens verstehen wir unsere Arbeit noch nicht als Prozesse, wenn wir mit der Prozesserhebung beginnen. Es ist also nicht selbstverständlich, dass ein benannter Prozess von allen Beteiligten und Stakeholdern so gesehen wird. Ein gemeinsam benannter Prozess ist bereits ein wichtiges Arbeitsergebnis des Prozessmanagement.
6.1.1 Start und Ende des Prozesses
Zuerst stecken wir den Rahmen des Prozesses ab. Das gilt unabhängig davon, ob wir den Prozess aus einem Referenzmodell, aus den Alltagswahrnehmungen der Beteiligten oder aus der heruntergebrochenen Unternehmensstrategie abgeleitet haben. Wir brauchen ein gemeinsames Bild davon, was wir mit dem Prozess meinen. Dazu sollten wir zunächst Anfang und Ende des Prozesses bezeichnen. Welcher Zustand ist beobachtbar, wenn der Prozess seine Arbeit aufnehmen soll und welcher Zustand bezeichnet das Ergebnis des Prozesses? Für wen ist der Unterschied zwischen Anfang und Ende bedeutsam?
6.1.2 Kunden, Stakeholder und Erwartungen
Damit kommen wir zur zweiten Frage: Wer sind die Kunden und Stakeholder des Prozesses und welche Erwartungen haben diese Gruppen? Was sind für diese Gruppen Basis- und Begeisterungsfaktoren? Welche Rahmenbedingungen werden dem Prozess von den Stakeholdern vorgegeben? Daraus lässt sich der Anspruch an das Ergebnis formulieren: Was müssen wir in diesem Prozess als Ergebnis erreichen und welche Erfolgsfaktoren entscheiden darüber, ob wir eine gute Arbeit abliefern?
Diese Fragen sollten wir in gemeinsamer Arbeit mit wichtigen Prozessbeteiligten und Stakeholdern erarbeiten. Nur wenn alle relevanten Gruppen über diese Fragen ein gemeinsames Bild gewinnen, können wir mit dem Prozess arbeiten. Gelingt das nicht, bleibt der Prozess ein Theoriegebilde ohne Wirkung auf die Zusammenarbeit.
Die Anforderungen an das Ergebnis und die Erfolgsfaktoren werden aber nicht immer nahtlos zueinander passen. Tatsächlich stehen sie meistens im Widerspruch zueinander. Qualitätsfaktoren wir Lieferbedingungen, Verpackung („Unboxing experience“) oder Service beißen sich mit dem Erfolgsfaktor Wirtschaftlichkeit, Bequemlichkeit für den Kunden im Online-Geschäft steht im Konflikt zu Datenschutzanforderungen. Diese Dilemmata zu benennen, ist ein wichtiger Schritt in der Identifikation des Prozesses.
6.1.3 Prozessbeteiligte und Arbeitsteilung
Dieses so beschriebene Prozessergebnis ist die Frucht der Zusammenarbeit aller am Prozess beteiligten Menschen und Maschinen. Die Personen, die daran mitarbeiten tragen als Team gemeinsam die Verantwortung dafür, dass dieses Ergebnis gut ist. Für die Kunden ist irrelevant, wer welchen Teil der Arbeit erledigt – sie interessieren sich nur für das Ergebnis.
Die Arbeitsteilung zwischen den Beteiligten ist nur im Innenverhältnis relevant, nach außen „haften“ alle Prozessbeteiligten als Team. Für unser Prozessverständnis ist es darum wichtig, wer zu diesem Team der Prozessbeteiligten gehört und wer dabei welchen Teil der Aufgaben übernimmt.
Dieses Verständnis ist für viele Unternehmen neu. Die Mitarbeiter und Führungskräfte der funktionalen Abteilungen verstehen ihre Arbeit als Funktion im Unternehmen, weniger als Beitrag zu einem Prozess. Die Perspektive „Beitrag zum gemeinsamen Ergebnis“ fördert die gemeinsame Identifikation des Prozesses.
6.1.4 Informationssicht
Die Informationssicht auf den Prozess beleuchtet die Daten und Dokumente, die im Prozess verarbeitet werden und die verwendeten Anwendungen. Wir fragen danach, welche Informationen als Input für den Prozess erforderlich sind, woher diese Informationen kommen und wie sie für die Arbeit vorliegen. Ebenso wollen wir wissen, welche Informationen der Prozess als Output liefert, wer mit diesen Informationen weiterarbeitet und wie wir sie bereitstellen.
6.1.5 Prozess-Steckbrief
Daraus ergibt sich ein Prozess-Steckbrief, der folgende Kenntnisse über den Prozess zusammenfasst:
- Kunden und Stakeholder des Prozesses
- Start und Ende (Ergebnis)
- Erfolgsfaktoren
- Prozessbeteiligte und ihre Beiträge
- Informationen Input und Output
Für eine solche Identifikation ist auch das Analyseformat „SIPOC“ verbreitet. Das Akronym steht für die englischen Begriffe Supplier, Input, Process, Output, Customer und fragt vor allem nach dem Informationsfluss des Prozesses.
Mit der Zusammenstellung der Inputs und Outputs aller betrachteten Prozesse fügt sich ein Gesamtbild zusammen. Hier können wir prüfen, ob der „Zuschnitt“ der Prozesse in sich konsistent ist. Alle Inputs eines Prozesses sind entweder externe Inputs oder werden von einem anderen Prozess als Output generiert. Alle Outputs sind entweder Ergebnis für Prozesskunden oder werden in einem anderen Prozess weiterverarbeitet.
6.2 Prozess dokumentieren
Mit diesem Prozess-Steckbrief gewinnen wir bereits eine sehr gute Orientierung für alle Mitarbeiter in den Prozessen. Wir wissen, wie die Tätigkeiten der verschiedenen Teams zu einem gemeinsamen Ergebnis ...