Rz. 350
Ob für die ausgesprochene außerordentliche Kündigung ein wichtiger Grund vorliegt, prüft die Arbeitsgerichtsbarkeit in 2 Stufen. Zunächst ist relevant, ob die Tatsachen, auf die der Arbeitgeber seine außerordentliche Kündigung stützt, an sich geeignet sind, als wichtiger Grund nach § 626 BGB herangezogen zu werden, z. B. eine sexuelle Belästigung i. S. v. § 3 Abs. 4 AGG (BAG, Urteil v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16). In der zweiten Stufe kommt es dann auf die Frage an, ob dem Arbeitgeber angesichts dieser Tatsachen eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zuzumuten ist. Hierfür kommt es nicht auf bestimmte Kündigungsgründe an, da solche vom Gesetz nicht explizit benannt werden. Die Prüfung ist also für alle Kündigungsgründe anzustellen. Der wichtige Grund i. S. v. § 626 BGB darf nicht mit dem wichtigen Grund für ein versicherungswidriges Verhalten i. S. der Sperrzeitregelung verwechselt werden. Ist für die außerordentliche Kündigung aufgrund des § 103 BetrVG die Zustimmung des Betriebsrates erforderlich und wird diese verweigert, kann die Zustimmung durch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung ersetzt werden. Im Übrigen hat der Arbeitgeber evtl. Zustimmungserfordernisse von Behörden (z. B. das Integrationsamt) sowie spezialgesetzliche Regelungen zu beachten (z. B. Zivilschutz, Katastrophenschutz, Arbeitsplatzschutz). Die Unwirksamkeit der Kündigung aus solchen Gründen ist allerdings allein noch nicht geeignet, den Eintritt einer Sperrzeit zu verneinen.
Rz. 351
Zur Stützung einer außerordentlichen Kündigung geeignete Tatsachen können erhebliche Verletzungen nicht nur der Hauptpflichten aus dem Arbeitsvertrag, sondern auch der Nebenpflichten herangezogen werden. Es ist keine strafrechtlich positive Bewertung für die Feststellung eines wichtigen Grundes erforderlich. Vertragsverletzungen durch den Arbeitnehmer können den Leistungsbereich (Arbeitspflicht), den betrieblichen Bereich (Betriebsablauf, Betriebsordnung), den Vertrauensbereich (insbesondere Rücksichtnahme und persönlicher Respekt) oder den Unternehmensbereich betreffen. Der wichtige Grund ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Kündigungsgründe müssen zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung vorgelegen haben. Soweit der Arbeitgeber diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, kann er sie nachschieben. Die Kündigungsgründe sind an einem sog. Negativfilter zu messen, sie müssen also zunächst unabhängig von etwaigen besonderen Umständen des Einzelfalles an sich geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. An die Abwägung der Zumutbarkeit einer weiteren Beschäftigung ist ein objektiver Maßstab anzulegen.
Rz. 352
Ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist im Rahmen einer Interessenabwägung zu entscheiden, bei der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Eingangsmaßstab ist dabei die eingetretene Vertrauensstörung. Es kommt also insofern nicht darauf an, ob durch das Verhalten des Arbeitnehmers ein hoher, ein geringer oder gar kein Schaden eingetreten ist (BAG, Urteil v. 23.8.2018, 2 AZR 235/18). Die Verhältnismäßigkeit der außerordentlichen Kündigung ist nur gewahrt, wenn es daneben kein milderes Mittel gibt, um den Vorgang abzuschließen. Bei der Interessenabwägung sind die Dauer des Arbeitsverhältnisses, die Schwere der Vertragsverletzung und ihre Folgen, das Verschulden des Arbeitnehmers sowie der (bisherige) Häufigkeitsgrad und die zu erwartende Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Eine außerordentliche Kündigung kann nur Bestand haben, wenn dem Arbeitgeber alle milderen Handlungen auf das Verhalten des Arbeitnehmers unzumutbar sind. Es kommt darauf an, ob durch ein milderes Mittel der Zweck, das Risiko künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden, ebenfalls erreicht werden kann.
Rz. 352a
Die außerordentliche Kündigung dient nicht der Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens in der Vergangenheit. Deshalb kann bei der Interessenabwägung nicht auf die Grundsätze der Strafzumessung abgestellt werden. Zulasten des Arbeitnehmers kann jedoch zu berücksichtigen sein, dass ein bewusstes, kollektives Zusammenwirken mit anderen Beschäftigten zum Nachteil des Arbeitgebers stattgefunden hat (BAG, Urteil v. 13.12.2018, 2 AZR 370/18). Selbst für Straftaten gilt jedoch, dass es keine absoluten Kündigungsgründe ohne Interessenabwägung gibt.
Rz. 353
Zunächst muss anhand der Tatsachen und Umstände sowie der Historie des Arbeitsverhältnisses festgestellt werden, inwieweit die Vertrauensbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer berührt ist. Dazu ist die Vergangenheit, insbesondere auch besondere Vorkommnisse, zu beleuchten. Dabei sind Abmahnungen einzubeziehen, wobei sich nicht nur gleichartige Abmahnungen auf das Vertrauensverhältnis insgesamt auswirken. Daneben ist zu berücksichtigen, in welchem Umfang den Arbeitnehmer eine Schuld trifft und welche Bemühungen er unternommen hat, um Schaden abzuwenden...