Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 618
Bei dauerndem Unvermögen, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, kann eine personenbedingte Kündigung aufgrund der erheblichen Störung des Austauschverhältnisses sozial gerechtfertigt sein. Eine dauerhafte Leistungsunfähigkeit kann sowohl auf körperlichen als auch auf psychischen Ursachen beruhen. Sie kann auch bei Alkoholabhängigkeit vorliegen, wenn Entziehungskuren erfolglos geblieben sind und voraussichtlich bleiben werden.
Auftretende Zeiten von Arbeitsfähigkeit schließen aus, dass ein dauerndes Unvermögen zur Leistungserbringung vorliegt. Hier kann je nach Einzelfall eine personenbedingte Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen gerechtfertigt sein.
Rz. 619
Eine gesonderte negative Prognose muss bei dauerhafter Leistungsunfähigkeit nicht mehr geprüft werden. Denn ist der Arbeitnehmer dauerhaft außer Stande, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist eine negative Prognose in Bezug auf die künftige Entwicklung des Gesundheitszustandes indiziert. Einer dauernden Leistungsunfähigkeit steht dabei auch die völlige Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gleich.
Besondere betriebliche Beeinträchtigungen muss der Arbeitgeber ebenfalls nicht darlegen, denn die dauernde Unmöglichkeit, die Arbeitsleistung zu erbringen, führt schon per se zu einer erheblichen Störung des Austauschverhältnisses. Ein Arbeitgeber nimmt Einstellungen vor, um durch sie einen bestimmten Arbeitsbedarf abzudecken. Bei dauernder Leistungsunfähigkeit steht fest, dass dieses unternehmerische Ziel nicht mehr erreicht werden kann. Die wirtschaftliche Erwartung, aufgrund derer das Arbeitsverhältnis mit dem bisherigen Inhalt eingegangen wurde, ist endgültig gescheitert.
Hiervon ausgehend würde nur dann kein Kündigungsgrund vorliegen, wenn die Arbeitsleistung für den Arbeitgeber überflüssig wäre, wovon aber regelmäßig nicht ausgegangen werden kann. Deshalb muss der Arbeitnehmer eine von ihm behauptete Überflüssigkeit konkret darlegen und bei Bestreiten beweisen.
Nach dem das Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf es jedoch kein milderes Mittel zur Vermeidung künftiger Fehlzeiten als die Kündigung geben. Ein milderes Mittel schließt auch die Verpflichtung des Arbeitsgebers ein, einen leidensgerechten Arbeitsplatz durch Ausübung seines Direktionsrechts "freizumachen". Eine Pflicht zur "Freikündigung" wegen des allgemeinen Kündigungsschutzes besteht dagegen grds. nicht.
Bei Vorliegen der entsprechenden sozialrechtlichen Voraussetzungen kann der Arbeitnehmer ggf. eine Erwerbsminderungsrente beantragen. Voll erwerbsgemindert ist u. a., wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen bedeutet nicht automatisch, dass auch Arbeitsunfähigkeit vorliegt, sodass weder die volle/teilweise Erwerbsminderung noch die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit an sich personenbedingte Kündigungsgründe darstellen.
Rz. 620
Die abschließend vorzunehmende Interessenabwägung wird nur in Ausnahmefällen zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Zu denken ist etwa an eine langjährige Beschäftigung und einen vom Arbeitgeber zu vertretenden Arbeitsunfall oder eine betrieblich verursachte Erkrankung, die die dauernde Leistungsunfähigkeit begründen. Aber selbst in diesen Fällen bedarf es besonders schwerwiegender Argumente zur Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers, weil das Arbeitsverhältnis nicht inhaltsleer aufrechterhalten werden muss. Allerdings steigen die Anforderungen an eine Umsetzung oder Umgestaltung des Arbeitsplatzes des betroffenen, besonders schutzwürdigen Arbeitnehmers.