Rz. 668

Eine arbeitgeberseitige Kündigung ist nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen. Neben Umständen, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers begründet sind, können daher auch Gründe, die der Sphäre des Arbeitnehmers entzogen und somit korrespondierend der Unternehmereigenschaft des Arbeitgebers zuzuordnen sind, zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung führen.

4.1.1 Historie

 

Rz. 669

Der soziale Rechtfertigungsgrund der dringenden betrieblichen Erfordernisse hat sich seit der ursprünglichen Fassung des Kündigungsschutzgesetzes v. 10.8.1951 nicht verändert. Bereits in dieser Fassung stellte der Gesetzgeber klar, dass das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers grds. hinter der betrieblichen Erforderlichkeit des Arbeitsplatzabbaus zurückzutreten hat. So ist in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass der Arbeitnehmer lediglich vor "solchen Kündigungen zu schützen sei, die hinreichender Begründung entbehrten" und "deshalb als willkürliche Durchschneidung des Bandes der Betriebszugehörigkeit" erscheinen.[1]

[1] Vgl. dazu RdA 1951, 63.

4.1.2 Bedeutung

 

Rz. 670

§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist Ausdruck der praktischen Konkordanz und bringt die kollidierenden Grundrechtsinteressen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber in ein verfassungsgemäßes Verhältnis. Denn die § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG im Ausgangspunkt zugrundeliegende unternehmerische Freiheit gilt nicht schrankenlos. Die Berufsfreiheit i. S. v. Art. 12 Abs. 1 GG schützt nicht nur die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers, sondern gewährt zugleich auch einen Mindestbestandsschutz für den Arbeitnehmer. Mit der von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufswahlfreiheit ist zwar kein unmittelbarer Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition verbunden[1], sodass dem einzelnen Arbeitnehmer kein absolutes Recht am Arbeitsplatz i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB zusteht.[2]

Trotzdem obliegt dem Staat eine Schutzpflicht, der sowohl der Gesetzgeber als auch die Gerichte Rechnung tragen müssen. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestbestandsschutz für ein Arbeitsverhältnis strahlt auf die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes aus. Die Gerichte haben von Verfassungs wegen zu prüfen, ob von ihrer Anwendung im Einzelfall das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG berührt wird. Trifft das zu, dann haben sie die Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes im Lichte der Grundrechte auszulegen.[3]

Hierdurch ist der Arbeitnehmer vor einem offensichtlich unsachlichen, unvernünftigen oder willkürlichen Arbeitsplatzabbau geschützt[4], muss aber einen grds. entschädigungslosen Arbeitsplatzverlust hinnehmen, wenn dringende betriebliche Erfordernisse seiner Beschäftigung entgegenstehen. Somit besteht ein durch die Bestimmungen des individuellen und kollektiven Kündigungsschutzes konkretisierter relativer Bestandsschutz.[5]

[2] Anders noch BAG, Urteil v. 30.9.1970, 1 AZR 535/69, zu 3 b der Gründe.
[5] KR/Rachor, § 1 KSchG Rz. 552.

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