Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 974
Weitere Rechtsfolge des § 1 Abs. 5 KSchG ist, dass die soziale Auswahl der Arbeitnehmer, auf der die Namensliste beruht, in einem Kündigungsschutzverfahren nur auf "grobe Fehlerhaftigkeit" überprüft wird. Im Gegensatz zu § 1 Abs. 4 KSchG bezieht sich der eingeschränkte Prüfungsmaßstab allerdings nicht nur auf die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte, sondern auch auf die Richtigkeit der getroffenen Sozialauswahl und die Entscheidung im Einzelfall.
Rz. 975
Zum einen betrifft dies die Entscheidung der Betriebspartner über die Mitarbeiter, die überhaupt in einer Sozialauswahl zu berücksichtigen sind (Vergleichbarkeit). Dieser Aspekt war im Schrifttum lange umstritten; teilweise wurde vertreten, die Abgrenzung des einzubeziehenden Personenkreises sei eine Rechtsfrage und keine Frage des Auswahlermessens. Das BAG ist jedoch seit Längerem der Auffassung, dass sich der reduzierte Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 5 KSchG auch auf die Vergleichsgruppenbildung erstrecke. Angesichts der Forderung nach größerer Rechtssicherheit mache es wenig Sinn, die Sozialauswahl, was die Kriterien und ihre Gewichtung angeht, nur einer eingeschränkten Überprüfung auf grobe Fehlerhaftigkeit zu unterwerfen, die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer als solche jedoch auszuklammern.
In Bezug auf die Sozialauswahl liegt der wesentliche mit der Namensliste verbundene Vorteil weniger in der Vermutung der richtigen Gewichtung der Sozialdaten als vielmehr darin, dass die Bildung der Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer, welche jeweils in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann. Die Gewichtung der Sozialdaten lässt sich in der Praxis durch anerkannte Punkteschemata bewältigen (vgl. Rz. 864, 924 ff.). Wesentlich schwieriger ist in der Praxis hingegen die Bestimmung, welche Arbeitnehmer miteinander vergleichbar (d. h. hierarchisch vergleichbar, qualifikationsmäßig austauschbar und kraft Direktionsrecht auf den Arbeitsplatz des anderen Arbeitnehmers versetzbar) sind. Insoweit hilft es, wenn die der Namensliste zugrunde liegende Vergleichsgruppenbildung grundsätzlich als korrekt unterstellt wird.
Rz. 976
Zum anderen gilt die eingeschränkte Überprüfbarkeit der Sozialauswahl auch für die Bewertung der berechtigten betrieblichen Interessen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG durch die Betriebspartner. Die Herausnahme einzelner Leistungsträger aus der Sozialauswahl unterliegt somit ebenfalls nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.).
Rz. 977
Die eingeschränkte Prüfungskompetenz der Arbeitsgerichte betrifft also die soziale Auswahl in jeder Hinsicht. Die Arbeitsgerichte haben die gesamte Sozialauswahl, einschließlich der Bildung auswahlrelevanter Gruppen und der Herausnahme von betrieblichen Leistungsträgern, nur auf grobe Fehler zu überprüfen. Die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG knüpfen an der konkreten Namensliste an, auf die sich die Betriebspartner verständigt haben. Dabei muss die Beteiligung einzelner Altersgruppen am Personalabbau jedoch auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 KSchG streng proportional erfolgen. Nur im Anwendungsbereich des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ist eine Veränderung der Personalstruktur möglich. Würde man dies auch außerhalb des engen Anwendungsbereichs der Insolvenzordnung gestatten, könnten sich die Betriebsparteien willkürlich über die gesetzlichen Grundbedingungen der Sozialauswahl hinwegsetzen.
Rz. 978
Grob fehlerhaft ist eine Sozialauswahl insbesondere, wenn die Gewichtung der 4 Hauptkriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn ein Kriterium überhaupt nicht berücksichtigt wurde, sondern allgemein, wenn "ein evidenter ins Auge springender, schwerer Fehler" vorliegt und man über die Mangelhaftigkeit der Sozialauswahl nicht mehr ernsthaft diskutieren kann. Das ist beispielsweise der Fall, wenn einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt worden sind. So dürfen die Betriebspartner z. B. den Unterhaltspflichten der betroffenen Arbeitnehmer zentrale Bedeutung beimessen; eine völlig unausgewogene Gewichtung liegt indessen vor, wenn pro Beschäftigungsjahr 1 Punkt, pro Lebensjahr ein halber Punkt und pro unterhaltspflichtiger Person 30 Punkte vergeben werden. Wird die Sozialauswahl unter Verkennung des Betriebsbegriffs durchgeführt, stellt dies nicht zwangsläufig einen "groben Fehler" dar. Hier handelt es sich um einen Unterfall der Verkennung des auswahlrelevanten Personenkreises, der nach Ansicht des BAG nur relevant sei, wenn seine Fehlerhaftigkeit "ins Auge springt". Die Offensichtlichkeit des Mangels kann indessen keine Voraussetzung einer groben Fehlerhaftigkeit darstellen; der Prozess einer Sozialauswahl ist schlechterdings zu komplex, als dass selbst gravierende Fehler einem Betrachter sofort ins Auge springen müssten.
Rz. 97...