Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 1
Die §§ 17–22 KSchG enthalten den 3. Abschnitt des KSchG und regeln den besonderen Kündigungsschutz bei Massenentlassungen. Die Vorschriften haben ihre Vorläufer in der Demobilmachungs- und der Stilllegungsverordnung von 1920 und fanden später ihren Eingang in die §§ 15 ff. KSchG 1951. Die heutige Fassung dient dazu, die Vorgaben der sog. "Massenentlassungsrichtlinie" (MERL) umzusetzen, welche eine Teilharmonisierung der mitgliedstaatlichen Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer bei den im Falle von Massenentlassungen anzuwendenden Verfahren bezweckt. Daher sind die nationalen Regelungen im Konfliktfall unionrechtskonform auszulegen. Die Instanzgerichte können ungeklärte europarechtliche Fragen dem EuGH vorlegen; letztinstanzliche Gerichte sind dazu nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, sonst verletzen sie das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Rz. 1a
Für den Fall einer beabsichtigten Massenentlassung, welche die in § 17 Abs. 1 KSchG aufgeführten Schwellenwerte überschreitet, regeln die Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des zuständigen Betriebsrats und Beratung (Konsultationspflicht, vgl. § 17 Abs. 2 KSchG) sowie zur Erstattung einer ordnungsgemäßen Anzeige der Entlassungen bei der zuständigen Agentur für Arbeit (Anzeigepflicht, vgl. § 17 Abs. 1 und 3 KSchG). Erst dann dürfen die Entlassungen durchgeführt werden, d. h. Kündigungen ausgesprochen oder andere Handlungen des Arbeitgebers, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen, vorgenommen werden (näher Rz. 16, 20 ff.) Eine Ausnahme für Massenentlassungen in der Insolvenz ist nicht vorgesehen. Für am Kapitalmarkt gelistete Unternehmen kann sich zusätzlich eine Pflicht zur Ad-hoc-Mitteilung (Art. 17 Abs. 1 Marktmissbrauchsverordnung – früher: § 15 WpHG) ergeben.
1.1 Geltungsbereich
Rz. 2
Die Vorschriften des 3. Abschnitts über anzeigepflichtige Entlassungen gelten nach § 23 Abs. 2 KSchG für Betriebe und Verwaltungen des privaten Rechts sowie für Betriebe, die von einer öffentlichen Verwaltung geführt werden, soweit sie wirtschaftliche Zwecke verfolgen (z. B. Gas-, Wasser-, Elektrizitätswerke, Verkehrsbetriebe, Theater, Sparkassen, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Stadthallen). Wie sich aus den in § 17 Abs. 1 KSchG geregelten Schwellenwerten ergibt, finden die Vorschriften jedoch nur Anwendung, wenn im jeweiligen Betrieb i. d. R. mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Bei der Ermittlung des Schwellenwerts zählen jedenfalls solche im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer nicht mit, deren Arbeitsverhältnis nicht dem deutschen Recht unterliegt. Dies gilt auch dann, wenn die ausländische Arbeitsstätte mit der deutschen einen Gemeinschaftsbetrieb bildet.
Rz. 2a
Mit Wirkung ab dem 10.10.2017 gelten die §§ 17 ff. KSchG auch für Seeschiffe und ihre Besatzung (§ 24 Abs. 5 KSchG; vgl. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 MELR); der anderslautende § 23 Abs. 2 Satz 2 KSchG wurde gestrichen. Die §§ 17 ff. KSchG finden nach § 23 Abs. 2 KSchG auch auf in Deutschland gelegene Luftverkehrsbetriebe Anwendung. Dabei ist zu beachten, dass der in § 24 Abs. 2 KSchG geregelte besondere Betriebsbegriff für den Luftverkehr im Rahmen des Massenentlassungsrechts nicht maßgeblich ist. Die in Bezug auf die Gesamtheit der Luftfahrzeuge in § 24 Abs. 2 KSchG enthaltene Fiktion eines Betriebs hat nur hinsichtlich des Ersten und Zweiten Abschnitts des KSchG (§§ 1 bis 16 KSchG) Bedeutung (arg. e §§ 23 Abs. 1 Satz 1, 24 Abs. 1 KSchG); im Rahmen des § 17 KSchG ist bei Luftverkehrsbetrieben der europarechtliche Betriebsbegriff zu beachten (vgl. Rz. 51).
Rz. 3
Die Vorschriften gelten nicht für Betriebe der öffentlichen Verwaltung, die keine wirtschaftlichen Zweck...