Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 16
Mit der sog. "Junk" -Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 wurde das frühere Verständnis überholt und die bisherige Praxis bei Massenentlassungen in ihren Grundfesten erschüttert. Der EuGH entschied, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis (i. S. d. MERL) ist, das als Entlassung gilt; die Kündigung dürfe erst nach dem Ende des Konsultationsverfahrens mit den Arbeitnehmervertretern (Art. 2 der MERL) und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde ausgesprochen werden.
Rz. 17
Das BAG schloss sich der Auffassung des EuGH an und legt die Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG seither in st. Rsp. richtlinienkonform dahingehend aus, dass unter dem Begriff der "Entlassung" der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist, dass das Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern abgeschlossen und dass die Massenentlassungsanzeige erstattet sein muss, bevor der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen kann. Die Kündigung ist ausgesprochen, wenn sie dem Arbeitnehmer zugeht (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG ist eine Kündigung grundsätzlich rechtsunwirksam, wenn sie der Arbeitgeber unter Außerachtlassung der gesetzlichen Anforderungen des § 17 KSchG ausspricht. Dies gilt sowohl für Fehler beim Konsultationsverfahren nach Abs. 2 (Rz. 117 ff.) als auch für Fehler beim Anzeigeverfahren (vgl. Rz. 150 ff.). Allerdings hat der 6. Senat eine Änderung seiner Rechtsprechung angekündigt (vgl. Rz. 159 ff.).
Rz. 18
Im Rahmen der Änderung seiner Rechtsprechung nach der Junk-Entscheidung des EuGH gewährte das BAG für sog. Altfälle Vertrauensschutz und behandelte Kündigungen bei verspäteter Anzeige nicht als unwirksam.
Rz. 19
Das BVerfG entschied jedoch, für die Gewährung von Vertrauensschutz im Zusammenhang mit der Junk-Entscheidung sei der EuGH und nicht das BAG zuständig gewesen. Durch das Unterlassen einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV habe das BAG das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt.