Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 156
Ob in sog. Neufällen nach der Junk-Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 auch noch von einer bloßen Entlassungssperre ausgegangen werden kann, war anfangs umstritten (vgl. Rz. 16 ff., 40 ff.). Dies wurde teilweise bejaht, überwiegend jedoch abgelehnt. Im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 MERL ("Die … Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der … Anzeige wirksam") und das Richtlinienverständnis des EuGH ("Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie werden die Massenentlassungen, d. h. die Kündigungen der Arbeitsverträge, erst mit Ablauf der geltenden Frist wirksam") war es naheliegend, dass das BAG die Rechtsprechung des EuGH auch insoweit nachvollzog und bei fehlender, verspäteter, inhaltlich falscher, unvollständiger oder anderweitig fehlerhafter Massenentlassungsanzeige von der Unwirksamkeit der Kündigung des Arbeitgebers i. S. d. § 13 Abs. 3 KSchG ausging. Eine Kündigung ist daher nach bisheriger Rechtsprechung des BAG rechtsunwirksam (§ 134 BGB), wenn sie der Arbeitgeber vor einer nach § 17 KSchG erforderlichen, den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Anzeige ausgesprochen hat bzw. – genauer gesagt – wenn die Kündigung dem Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt zugeht (§ 130 Abs. 1 BGB), zu dem die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige noch nicht bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen ist. Unterlaufen dem Arbeitgeber Fehler im Zusammenhang mit der sich aus § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG ergebenden Einbindung des Betriebsrats in das Anzeigeverfahren, ist die Kündigung ebenfalls nichtig (vgl. Rz. 131, 137a). Auch Fehler bei den sog. Muss-Angaben i. S. d. § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG führen zur Nichtigkeit der Kündigung (vgl. Rz. 143). Der in einem Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG liegende Mangel der Anzeige wird durch einen die wirksame Erstattung der Massenentlassungsanzeige bestätigenden Bescheid der Agentur für Arbeit nicht geheilt.
Rz. 157
Dieser Rechtsprechung ist grundsätzlich zuzustimmen, da die MERL auch arbeitnehmerschützende Wirkung hat (vgl. Rz. 6, 8) und sich aus Art. 6 MERL ergibt, dass den Arbeitnehmern (und/oder Arbeitnehmervertretern) administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen nach der MERL zur Verfügung stehen müssen. Im Übrigen ist in der MERL eine Rechtsfolge für den Fall, dass das Anzeigeverfahren vor der Erklärung einer Kündigung nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, abgesehen von der auslegungsfähigen Vorschrift des Art. 4 MERL (Entlassungssperre) nicht explizit vorgesehen. Enthält eine unionsrechtliche Richtlinie keine besondere Regelung für den Fall eines Verstoßes gegen ihre Vorschriften, obliegt den Mitgliedstaaten die Wahl einer Sanktion. Sie haben dabei darauf zu achten, dass die Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht gelten. Die Sanktion muss dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Es sind also sowohl der Äquivalenzgrundsatz als auch der Effektivitätsgrundsatz (effet utile) zu beachten. Zwar enthalten die §§ 17, 18 KSchG keine ausdrückliche Rechtsfolge für das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer Massenentlassungsanzeige, allerdings kommt den deutschen Umsetzungsvorschriften grundsätzlich Schutzcharakter zugunsten der Arbeitnehmer zu, sodass die Vorschriften des § 17 KSchG über die Massenentlassungsanzeige unter Beachtung des unionsrechtlichen Grundsatzes des "effet utile" als Verbotsnorm i. S. d. § 134 BGB anzusehen sind, die zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, sollte die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erstattet worden sein.
Rz. 158
Bei einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige sind auch die sonstigen vom Arbeitgeber veranlassten Beendigungshandlungen unwirksam, weil sie nach § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG der Arbeitgeberkündigung/Entlassung gleichstehen (vgl. Rz. 23 ff.). Daher sind bei fehlerhafter Anzeige auch die vom Arbeitgeber veranlasste Eigenkündigung des Arbeitnehmers und der vom Arbeitgeber veranlasste Aufhebungsvertrag unwirksam. Die Unwirksamkeit des jeweiligen Rechtsgeschäfts hat das Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen; eine Berufung auf die Rechtsfolge ist nicht erforderlich.