Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 44
Die Anzeigepflicht und die sonstigen Pflichten nach § 17 Abs. 1 bis 3 KSchG werden nur ausgelöst, wenn die beabsichtigten Entlassungen bestimmte Schwellenwerte innerhalb von 30 Kalendertagen überschreiten. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG sind folgende Schwellenwerte zu überschreiten:
In Betrieben mit i. d. R. … Arbeitnehmern, |
bestehen die Anzeige- und Konsultationspflichten bei Entlassung von … innerhalb von 30 Kalendertagen |
1 bis 20 |
./. (keine Pflicht zur Massenentlassungsanzeige und zur Konsultation) |
21 bis 59 |
min. 6 Arbeitnehmern (Nr. 1) |
60 bis 250 |
min. 10 % der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer (vgl. Nr. 2) |
251 bis 499 |
min. 26 Arbeitnehmern (vgl. Nr. 2) |
500 und mehr |
min. 30 Arbeitnehmern (Nr. 3) |
Vor diesem Hintergrund sind zunächst die Betriebsgröße und die maßgebliche Zahl der "i. d. R. im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer" zu ermitteln. Dann ist die Zahl der beabsichtigten Entlassungen von Arbeitnehmern festzulegen, die in einem Zeitraum von 30 Kalendertagen erfolgen soll.
Rz. 45
Im Kündigungsschutzverfahren ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Anzeigepflicht nach § 17 KSchG. Er muss also sowohl die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer als auch die Zahl der entlassenen Arbeitnehmer im Streitfall beweisen. An die Darlegungslast des Arbeitnehmers dürfen aber keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitnehmer genügt im Rahmen des Abs. 1 i. d. R. seiner Darlegungslast, wenn er die äußeren Umstände schlüssig darlegt, die für die Annahme sprechen, dass die betreffenden Schwellenwerte erreicht werden. Hat der Arbeitnehmer schlüssig derartige äußere Umstände vorgetragen, so hat der Arbeitgeber hierauf nach § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen zu erklären, aus welchen rechtserheblichen Umständen folgen soll, dass der Schwellenwert nicht erreicht wird. Hierauf muss dann der Arbeitnehmer erwidern und ggf. Beweis antreten (vgl. Rz. 164).
4.1 Maßgeblicher Zeitpunkt
Rz. 46
Bei der Feststellung, ob der für den jeweiligen Betrieb maßgebliche Schwellenwert durch die beabsichtigten Entlassungen überschritten wird, ist auf den Zeitpunkt vor der Entscheidung über die Entlassung abzustellen (vgl. Rz. 36). Denn die in den Massenentlassungsvorschriften vorgesehenen Konsultations- und Anzeigepflichten entstehen vor einer Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen. Die zuerst zu erfüllende Konsultationspflicht wiederum entsteht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt, bzw. bevor der Arbeitgeber eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung trifft, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen (Rz. 95). Daher muss spätestens zu diesem Zeitpunkt feststehen, ob die maßgeblichen Schwellenwerte überschritten sind oder nicht.
4.1.1 Frühere Rechtslage vor der "Junk"-Entscheidung
Rz. 47
Nach früherer Rechtsprechung des BAG vor dem EuGH-Urteil in Sachen "Junk" war für die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG nicht die Beschäftigtenzahl im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs, sondern im Zeitpunkt der tatsächlichen Vollziehung der Entlassung maßgebend (vgl. Rz. 15).
4.1.2 Heutige Rechtslage
Rz. 48
Bei richtlinienkonformer Auslegung von § 17 Abs. 1 KSchG ist unter Entlassung der Ausspruch der Arbeitgeberkündigung sowie jede vom Arbeitgeber veranlasste und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führende Handlung (z. B. Abschluss eines Aufhebungsvertrags, Ausspruch einer Eigenkündigung durch den Arbeitnehmer, vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG) zu verstehen (vgl. Rz. 16 f.). Bei der Feststellung, ob die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, ist daher auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs durch den Arbeitgeber oder die Vornahme der vom Arbeitgeber veranlassten Beendigungshandlung abzustellen. Hinsichtlich des Ausspruchs der arbeitgeberseitig erklärten oder veranlassten Kündigung ist der Zugang der Kündigungserklärung maßgebend, da mit dem Zugang die Kündigung wirksam ausgesprochen ist (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Im Hinblick auf die vom BVerfG vertretene nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs für Arbeitnehmer mit "Sonderkündigungsschutz unter Zustimmungsvorbehalt" kommt es auf den Zugang des Antrags auf Zustimmung...