Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 46
Bei der Feststellung, ob der für den jeweiligen Betrieb maßgebliche Schwellenwert durch die beabsichtigten Entlassungen überschritten wird, ist auf den Zeitpunkt vor der Entscheidung über die Entlassung abzustellen (vgl. Rz. 36). Denn die in den Massenentlassungsvorschriften vorgesehenen Konsultations- und Anzeigepflichten entstehen vor einer Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen. Die zuerst zu erfüllende Konsultationspflicht wiederum entsteht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt, bzw. bevor der Arbeitgeber eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung trifft, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen (Rz. 95). Daher muss spätestens zu diesem Zeitpunkt feststehen, ob die maßgeblichen Schwellenwerte überschritten sind oder nicht.
4.1.1 Frühere Rechtslage vor der "Junk"-Entscheidung
Rz. 47
Nach früherer Rechtsprechung des BAG vor dem EuGH-Urteil in Sachen "Junk" war für die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG nicht die Beschäftigtenzahl im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs, sondern im Zeitpunkt der tatsächlichen Vollziehung der Entlassung maßgebend (vgl. Rz. 15).
4.1.2 Heutige Rechtslage
Rz. 48
Bei richtlinienkonformer Auslegung von § 17 Abs. 1 KSchG ist unter Entlassung der Ausspruch der Arbeitgeberkündigung sowie jede vom Arbeitgeber veranlasste und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führende Handlung (z. B. Abschluss eines Aufhebungsvertrags, Ausspruch einer Eigenkündigung durch den Arbeitnehmer, vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG) zu verstehen (vgl. Rz. 16 f.). Bei der Feststellung, ob die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, ist daher auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs durch den Arbeitgeber oder die Vornahme der vom Arbeitgeber veranlassten Beendigungshandlung abzustellen. Hinsichtlich des Ausspruchs der arbeitgeberseitig erklärten oder veranlassten Kündigung ist der Zugang der Kündigungserklärung maßgebend, da mit dem Zugang die Kündigung wirksam ausgesprochen ist (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Im Hinblick auf die vom BVerfG vertretene nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs für Arbeitnehmer mit "Sonderkündigungsschutz unter Zustimmungsvorbehalt" kommt es auf den Zugang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Stelle an (vgl. Rz. 28 ff.).
Rz. 49
Zunächst ist festzustellen, wie hoch die Regelanzahl der Arbeitnehmer im Betrieb zum Zeitpunkt des Zugangs der beabsichtigten Kündigungserklärungen oder der Vornahme der sonstigen als Entlassung zu wertenden Handlung des Arbeitgebers ist und wie viele derartige Entlassungen voraussichtlich innerhalb von 30 Kalendertagen vorgenommen werden sollen. Da der Arbeitgeber beim Angebot eines Aufhebungsvertrags nicht weiß, ob der Arbeitnehmer das Angebot annimmt, ist die beabsichtigte Arbeitsvertragsbeendigung vorsorglich (als Beendigungshandlung) mit zu berücksichtigen. Dasselbe gilt bei Änderungskündigungen, bei denen der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Ausspruchs noch nicht weiß, ob der Arbeitnehmer sie – ggf. unter Vorbehalt – annimmt oder ob sie zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen. Klarheit dahingehend, ob der Arbeitnehmer innerhalb der 30 Kalendertage tatsächlich das Aufhebungsvertragsangebot bzw. bei der Änderungskündigung das Änderungsangebot annimmt, erhält der Arbeitgeber durch eine entsprechende Befristung des Angebots (vgl. §§ 147, 148 BGB). Die Frist zur Annahme des Änderungsangebots muss bei der Änderungskündigung entsprechend § 2 Satz 2 KSchG mindestens 3 Wochen betragen.