Rz. 16
Bereits nach dem seit 1.4.2004 geltenden § 125 Abs. 3 SGB IX a. F. galt bei rückwirkender Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft die Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG auch für die Übertragung des Zusatzurlaubs aus dem vorangegangenen Kalenderjahr. Dies gilt bei § 208 SGB IX seit 1.1.2018 unverändert. D. h., auch der Zusatzurlaub muss grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden. Nur wenn betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, darf er in das darauf folgende Kalenderjahr übertragen werden. Der Arbeitnehmer muss ihn dann aber bis spätestens 31.3. des Übertragungsjahres nehmen, es sei denn, ein für das Arbeitsverhältnis geltender Tarifvertrag sieht einen längeren Übertragungszeitraum vor. Damit wird eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen.
Die Ungewissheit über die Schwerbehinderung bzw. über das Ergebnis des Feststellungsverfahrens nach § 152 Abs. 1 SGB IX ist kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund für eine Übertragung des Zusatzurlaubs auf den gesetzlichen Übertragungszeitraum gem. § 7 Abs. 3 BUrlG oder einen gegebenenfalls bestehenden tarifvertraglichen Übertragungszeitraum. Die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft hat deshalb auch nicht zur Folge, dass der Arbeitnehmer in größerem Umfang "aufgestaute" Urlaubsansprüche geltend machen könnte, es gelten insoweit die für den "normalen" Erholungsurlaub maßgeblichen Regelungen (§ 208 Abs. 3 SGB IX).
Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie ist § 7 Abs. 3 BUrlG zwar unionsrechtskonform so auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. Der Zusatzurlaubsanspruch aus § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist an das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs gebunden. D. h., dass auch der gesamte Zusatzurlaub nach Rückkehr aus längerer krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit noch nicht verfallen ist und vom Arbeitgeber gewährt werden muss.
Die unionsrechtskonforme Auslegung hat jedoch nur zur Folge, dass der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzutritt und damit erneut dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG unterfällt. Besteht die Arbeitsunfähigkeit auch am 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, so gebietet auch das Unionsrecht keine weitere Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs. Nach der Rechtsprechung des BAG erlischt der zunächst aufrechterhaltene Urlaubsanspruch somit (spätestens) zu diesem Zeitpunkt. Die Notwendigkeit einer Begrenzung der Übertragung des Urlaubsanspruchs ergibt sich zwar nicht aus dem Unionsrecht. Der Neunte Senat des BAG hat jedoch den Untergang des Urlaubsanspruchs am 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres aus dem nationalen Recht abgeleitet. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn die urlaubsrechtlichen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie zwischen dem Arbeitnehmer und dem Staat als Arbeitgeber unmittelbar zur Anwendung kommen können.
Beispiel
Ein als schwerbehinderter Mensch anerkannter Arbeitnehmer war vom 10.2.2019 bis 31.3.2024 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Der Arbeitgeber sah im Hinblick auf einen gestellten Antrag auf Erwerbsminderungsrente von einer personenbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses ab. Der Rentenantrag des Arbeitnehmers wird abgelehnt, seine Klage vor dem Sozialgericht wird abgewiesen. Daraufhin nimmt er am 1.4.2024 die Arbeit wieder auf.
Lösung:
Die Ansprüche auf Zusatzurlaub von 2020 bis 2022 sind verfallen. Die Ansprüche des Jahres 2022 mit Ablauf des 31.3.2024, dem zweiten auf das Urlaubsjahr 2022 folgenden Jahr. Der Anspruch aus dem Jahr 2023 i. H. v. 5 Tagen besteht noch und ist dem Arbeitnehmer zu gewähren. Hinzu kommen die 5 Tage für das Jahr 2024. Problematisch könnten die Ansprüche aus dem Jahr 2019 sein. Hier kommt es nach der neuen Rechtsprechung des BAG darauf an, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor dem 10.2.2019 in die Lage versetzt hat, den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen auch tatsächlich zu nehmen.
Der Anspruch auf den Schwerbehindertenzusatzurlaub eines langandauernd erkrankten Arbeitnehmers erlischt auch dann mit dem 31.3. des zweiten Folgejahres, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer während der ununterbrochenen Arbeitsunfähigkeit nicht auf den drohenden Verfall der Urlaubsansprüche hingewiesen hat (so für den gesetzlichen Mindesturlaub). Diese Pflicht besteht erst wieder nach Wiedergenesung bezogen auf die konkreten Ansprüche des Arbeitnehmers. Das BAG teilt diese Auffassung jedenfalls für den während der Arbeitsunfähigkeit entstandenen und nicht genommenen gesetzlichen Urlaub. Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne, dass es auf die Aufforderung und Hinweise des A...