Rz. 1
Verletzt der Arbeitgeber das Recht des Betriebsrates auf den Versuch eines Interessenausgleichs bei Betriebsänderungen, so räumt § 113 BetrVG den durch die Betriebsänderung nachteilig betroffenen Arbeitnehmern einen Kompensationsanspruch in Form des Nachteilsausgleichs ein. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich kann bei allen Formen der Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG entstehen. Das Gesetz stellt nur darauf ab, ob der Arbeitgeber von einem Interessenausgleich abgewichen ist oder dessen Vereinbarung nicht versucht hat. Ob ein Sozialplan abgeschlossen wurde, ist unerheblich. Eine Abweichung von einem Sozialplan kann keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich auslösen. Allerdings haben die Arbeitnehmer aus dem Sozialplan unmittelbar klagbare Ansprüche. Hält der Arbeitgeber sich nicht an einen Sozialplan, können die betroffenen Arbeitnehmer ihre Sozialplanansprüche unmittelbar auf dem Klageweg durchsetzen. In der Praxis verschwimmen die Grenzen häufig, wenn Sozialplan und Interessenausgleich in einer Vereinbarung zusammengefasst werden. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich kann sogar in den Fällen des § 112a BetrVG entstehen, in denen der Sozialplan nicht erzwingbar ist, also wenn
- ein Personalabbau vorgenommen wird, der zwar die für § 111 BetrVG grundsätzlich maßgebenden Schwellenwerte des § 17 KSchG überschreitet, aber unter den Schwellen des § 112a Abs. 1 BetrVG bleibt, oder wenn
- ein neugegründetes Unternehmen innerhalb der ersten 4 Jahre eine Betriebsänderung vornimmt.
Rz. 2
Der Nachteilsausgleich hat eine Doppelfunktion: einerseits ist er ein wirtschaftlicher Ausgleich für die Arbeitnehmer, andererseits eine spezielle Sanktion von Verstößen des Arbeitgebers gegen die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats. Der Betriebsrat hat hingegen keinen eigenen Anspruch auf Einhaltung und Durchführung des Interessenausgleichs. Ob ein Unterlassungsanspruch des Betriebsrats gegen betriebsändernde Maßnahmen ohne Beteiligung des Betriebsrats ist damit ausgeschlossen ist, ist sehr streitig und wird von den verschiedenen Landesarbeitsgerichten unterschiedlich beantwortet. Verneint man einen Unterlassungsanspruch, kann der Betriebsrat demzufolge auch betriebsbedingte Kündigungen vor Abschluss des Interessenausgleichs nicht verhindern, allenfalls kann er sie hinauszögern.
Rz. 3
In Tendenzbetrieben muss der Arbeitgeber keinen Interessenausgleich abschließen oder anstreben. Nach der Rechtsprechung entsteht den Arbeitnehmern hier aber ein Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht über die beabsichtigte Betriebsänderung informiert und Verhandlungen über einen Sozialplan ermöglicht hat.
Rz. 4
§ 113 BetrVG gilt auch für den Insolvenzverwalter. Die Vorschrift begründet einen Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Verwalter nach Verfahrenseröffnung von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund abweicht oder eine nach § 111 BetrVG geplante Betriebsänderung durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich ist als Insolvenzforderung zu berichtigen, wenn unabhängig vom Verhalten des Insolvenzverwalters die Betriebsstilllegung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begonnen wurde und der Versuch eines vorherigen Interessenausgleichs unterblieben ist. Der Anspruch stellt dagegen eine Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO dar, wenn die Betriebsänderung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossen und durchgeführt wurde. Begründet ein Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit Ansprüche auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG, stellen diese Neumasseverbindlichkeiten im Sinne von § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO dar.