Rz. 9
Der rechtliche Rahmen zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen ist durch Handreichungen zur praktischen Durchführung, Dokumentation und Information im Arbeitsschutzrecht bereits vorgegeben. Es genügt daher, die mutterschutzrechtlichen Besonderheiten in einer Ergänzung und Konkretisierung zu den bestehenden Arbeitgeberpflichten zu erfassen. Das reduziert auch den damit verbundenen Aufwand beim Arbeitgeber. Er muss die besonderen Gefährdungen für Schwangere und Stillende nur ergänzend erfassen, bewerten und dokumentieren.
Rz. 10
In der Reihenfolge des Vorgehens ist zunächst die Gefährdungsbeurteilung nach § 10 vorzunehmen und daran anschließend die Bewertung der verantwortbaren oder unverantwortbaren Gefährdung nach § 9 MuSchG.
Anschließend ist zu prüfen, welche Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen für schwangere Frauen nach § 11 MuSchG unzulässig sind. Diese Norm nimmt sozusagen das Ergebnis einer Gefährdungsbeurteilung durch das Aufstellen konkreter Verbote im Umgang mit Gefahrstoffen und Gefährdungen vorweg. Gleiches gilt für stillende Frauen nach § 12 MuSchG. Unabhängig vom Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung formulieren also § 11 MuSchG für Schwangere und § 12 MuSchG für Stillende "unzulässige Tätigkeiten", bei denen eine Gefährdung so intensiv vorliegt, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit von mindernden oder ausgleichenden Schutzmaßnahmen ausschließt.
Anlassunabhängige und anlassbezogene Gefährdungsbeurteilung
Der Arbeitgeber ist verpflichtet eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, auch wenn er zum Zeitpunkt der Beurteilung keine Frauen beschäftigt, die betreffende Tätigkeit nicht von einer Frau ausgeführt wird, keine Schwangerschaft oder keine Stillzeit bekannt gegeben worden ist. Er muss Art, Ausmaß und Dauer von möglichen Gefährdungen, denen eine schwangere oder stillende Frau oder ihr Kind ausgesetzt sind oder sein können, bereits vor Aufnahme der Tätigkeit beurteilen.
Dadurch werden 2 Stufen der Durchführung der mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung bestimmt:
- Die anlassunabhängige Gefährdungsbeurteilung (§ 10 Abs. 1) hat das Ziel, mögliche Gefährdungen einer schwangeren oder stillenden Frau oder ihres Kindes durch die betrieblichen Tätigkeiten festzustellen und zu beurteilen sowie das grundsätzliche Erfordernis für Schutzmaßnahmen zu ermitteln (Stufe 1). Es ist ratsam, erforderliche Schutzmaßnahmen bereits konkret zu benennen, da hierdurch eine Unterbrechung der Tätigkeit ab Bekanntwerden der Schwangerschaft bis zur Durchführung der Schutzmaßnahmen minimiert werden kann.
Die anlassbezogene Gefährdungsbeurteilung ist durchzuführen, sobald eine Frau den Arbeitgeber von ihrer Schwangerschaft oder Stillzeit unterrichtet hat (§ 10 Abs. 2 Satz 1). Der Arbeitgeber muss die in Stufe 1 ermittelten Gefährdungen auf Vollständigkeit und Aktualität überprüfen sowie die erforderlichen Schutzmaßnahmen festlegen und durchführen (Stufe 2). Zudem hat er der Frau ein Gespräch über weitere Anpassungen ihrer Arbeitsbedingungen anzubieten (§ 10 Abs. 2 Satz 2).
Das Angebot, der Zeitpunkt der Durchführung des Gesprächs oder dessen mögliche Ablehnung durch die betroffene Frau, sind zu dokumentieren.
Schrittweise Beurteilung
In der Praxis wird zunächst festgestellt, ob eine Tätigkeit mit unzulässigen Stoffen und Situationen nach dem Katalog von § 11 MuSchG für Schwangere oder § 12 MuschG für Stillende vorliegt. Dann ist eine Beschäftigung ausgeschlossen und kann auch nicht durch Schutzmaßnahmen ermöglicht werden, weil eine "unverantwortbare Gefährdung" vorliegt. Das bedeutet nicht, dass eine Gefährdungsbeurteilung entfällt, der Arbeitgeber hat in diesen Fällen der §§ 11 und 12 MuSchG nur keinen Ermessens- und Beurteilungsspielraum. Daher wird zunächst der Katalog der §§ 11 und 12 MuSchG zu prüfen sein, bevor die Gefährdungsbeurteilung nach §§ 9 und 10 MuSchG durchgeführt wird.
Rz. 11
Die Verknüpfung der mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung mit der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Arbeitsschutzgesetz und den Vorschriften zum Mutterschutz. Die Verknüpfung gewährleistet zugleich, dass unnötige Belastungen für die Arbeitgeber durch Erstellen einer kurzen Ergänzung vermieden werden.
Am 8.8.2023 hat der Ausschuss für Mutterschutz (AfMu) die erste Regel zur Gefährdungsbeurteilung im Bereich des Mutterschutzes veröffentlicht. Sie soll Arbeitgeber dabei unterstützen, die mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung durchzuführen.
Durch die Rechtsqualität einer "Regel" hat das Dokument offiziellen Charakter und ist damit "Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis". Regeln sind verbindliche Umsetzungsvorgaben (mit der Möglichkeit der begründeten Abweichung). Die verbindlichen sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und arbeitshygienischen Regeln, die der AfMu gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 MuSchG aufstellt, werden durch das BMFSFJ im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium fü...