Rz. 19

Die Ausübung einer in § 11 beschriebenen unzulässigen Tätigkeit vermutet das Vorliegen einer unverantwortbaren Gefährdung. Der Begriff der "Gefährdung" bezeichnet – im Unterschied zum Rechtsbegriff der "Gefahr" – die Möglichkeit eines Schadens ohne bestimmte Anforderungen an ihr Ausmaß oder ihre Eintrittswahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Arbeitsschutz bekannte Gefährdungsbegriff gilt grundsätzlich auch im Mutterschutzrecht.[1]

Der Gesetzgeber hat darüber hinaus im Mutterschutzrecht den Begriff der unverantwortbaren Gefährdung eingeführt.[2] Nach der Legaldefinition in § 9 Abs. 2 MuSchG ist eine Gefährdung dann unverantwortbar, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gesundheitsbeeinträchtigung angesichts der zu erwartenden Schwere des möglichen Gesundheitsschadens nicht hinnehmbar ist.

Die Beschäftigung bezieht sich dabei auf die in § 11 genannten Situationen, insbesondere den konkreten Umgang mit den in § 11 genannten chemischen oder biologischen Stoffen. Damit sind Zubereitungen (Vermischen, Vermengen, Verändern der Zusammensetzung), aber auch Zustände gemeint, für die als Oberbegriff die Bezeichnung "Stoffe" verwendet wurde. Die Gefährdung kann im Einatmen, Aufnahme durch die Haut etwa bei Verletzungen, Verschlucken, direkte Berührung oder sonstige Einwirkungen auf den Körper der Frau bestehen.

 

Rz. 20

Die in den Abs. 1 und 2 beschriebenen Gefahr- und Biostoffe sind Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine unverantwortbare Gefährdung gesetzlich vermutet wird. Auch die Abs. 4-6 enthalten Kataloge von Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen, die ohne eine gesonderte Prüfung und Einstufung durch den Arbeitgeber aufgrund der gesetzgeberischen Wertung als unverantwortbare Gefährdung und damit als unzulässig zu bewerten sind. Erst durch die Anordnung von Maßnahmen nach § 9 Abs. 2 MuSchG werden aus unverantwortbaren Gefährdungen solche, die als verantwortbar gelten können.

 

Rz. 21

Wie die Regelungen in den Abs. 2-5 unterscheidet die Regelung in Abs. 1 damit zwischen dem "Ausgesetztsein" (Exposition) und der unverantwortbaren Gefährdung. Die Regelung trägt damit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Risikobetrachtung Rechnung. Im Hinblick auf Gefahrstoffe gehören Expositionen auf Hintergrundniveau zum Alltag und können nicht Auslöser für spezifische Schutzmaßnahmen für schwangere Frauen sein. Sind die gesundheitsschädigenden Wirkungen eines Stoffes oder Gemisches jedoch so gravierend, dass bei gering erhöhten Expositionen eine unverantwortbare Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann, ist die Schwelle erreicht, die einen Ausschluss der jeweiligen Gefährdung erforderlich macht.[3]

[1] Vom Stein/Rothe/Schlegel, Gesundheitsmanagement und Krankheit im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl. 2021, § 15 Mutterschutz, Mutter und Kind- Gesundheit von Anfang an, Rn. 18.
[2] BT-Drucks. 18/8963 S. 66.
[3] S. Gesetzesbegründung in BR-Drucks. 230/16 S. 79 ff. sowie BT-Drucks.18/8963 S. 71.

2.1.1 Benannte Gefahrstoffe nach § 11 Abs. 1 Satz 2

 

Rz. 22

Nach Satz 2 liegt eine unverantwortbare Gefährdung i. S. v. Satz 1 insbesondere dann vor, wenn die schwangere Frau Tätigkeiten ausübt oder Arbeitsbedingungen ausgesetzt ist, bei denen sie den in den Nrn. 1-3 benannten Gefahrstoffen ausgesetzt ist. Satz 2 nimmt damit eine Konkretisierung für die Prüfung nach Satz 1 vor: Ist eine schwangere Frau diesen beispielhaft genannten Gefahrstoffen ausgesetzt, wird dies nach Satz 2 grundsätzlich als eine unverantwortbare Gefährdung eingestuft.

 

Rz. 23

Der Katalog nach § 11 berücksichtigt insbesondere die Gefahrstoffe, die vom Anhang I oder II der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG erfasst sind. Dazu gehören neben den in Satz 2 ausdrücklich genannten Stoffen:

  • Gefahrstoffe, die im Anhang I der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG unter Buchstabe A. (Agenzien), Nr. 3 (chemische Agenzien) aufgelistet sind (d. h. Quecksilberderivate, Mitosehemmstoffe, Kohlenmonoxid, oder gefährliche chemische Agenzien, die nachweislich in die Haut dringen),
  • Gefahrstoffe, die in den von Anhang I der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG, Buchstabe B. (Verfahren) erfassten industriellen Verfahren (Verfahren i. S. d. Anhangs I der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit (Sechste Einzelrichtlinie i. S. v. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 98/39/EWG des Rates)) freigesetzt werden.
 

Rz. 24

Erfasst sind demnach im Einzelnen chemische Einwirkungen:

  • bei der Herstellung von Auramin;
  • bei Arbeiten, bei denen die schwangere Frau polyzyklisch aromatischen Kohlenwasserstoffen ausgesetzt ist, die in Steinkohlenruß, Steinkohlenteer oder Steinkohlenpech vorhanden sind;
  • bei Arbeiten, bei denen die schwangere Frau Staub, Rauch oder Nebel beim Rösten oder bei der elektrolytischen Raffination von Nickelmatte ausgesetzt ist;
  • im Rahmen von Starke-Säure-Verfahren bei der Herstellung von Isopropylalkohol sowie bei Arbeiten, bei denen die schwangere Frau Hartholzsäuren ausgesetzt ist.
 

Rz. 25

Zunächst ist sachlich zu erfassen, dass die Schwangere mit di...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Personal Office Platin enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge