Mehr Selbstbestimmung in der Werkshalle
Teilzeit, Homeoffice und flexible Arbeitszeiten – in Büroberufen ist das spätestens seit der Coronapandemie gang und gäbe. Aber wo bleiben die Beschäftigten in der Produktion, wenn überall von New Normal und Remote Work gesprochen wird, sie aber nicht einmal das Kind in die Kita bringen können, weil schon um 6 Uhr Schichtbeginn ist?
Bislang gilt in den meisten Firmen: Will jemand im Schichtdienst Teilzeit arbeiten, ist das nur dann möglich, wenn ganze Arbeitstage reduziert werden, also nur drei oder vier Vollzeit-Schichten pro Woche gearbeitet werden. Mit einem solchen Modell Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen, war schwierig und wurde durch die Pandemie noch schwieriger. Ganz im Gegensatz dazu der Bürobereich, in dem die Arbeit immer remoter und flexibler wird. New Work ist ein schöner Begriff für viele Unternehmen, aber in der Fertigung ist es kein Thema.
Kreative Lösungen für die Produktion
Doch nicht alle Unternehmen haben ihre Produktionsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter vergessen, und sie haben spannende Ansätze entwickelt. Ein aktuelles Beispiel kommt von Audi: In der Lackiererei am Standort Ingolstadt wurde ein Pilotprojekt gestartet, bei dem die Mitarbeitenden auch im Vollschichtbetrieb Teilzeit arbeiten können, indem sie stundenweise durch Springer vertreten werden.
In allen Bereichen, sowohl in den taktgebundenen als auch in nicht taktgebundenen, steigt der Wunsch nach Teilzeit." - Miriam Mayer-Ebert, Audi AG
"In allen Bereichen, sowohl in den taktgebundenen als auch in nicht taktgebundenen, steigt der Wunsch der Mitarbeitenden nach flexiblen Teilzeitmodellen, um Beruf und Familie unter einen Hut bringen zu können. Das ist ein immenser Faktor für die Arbeitgeberattraktivität, die Beteiligung der Mitarbeitenden und die Identifikation mit dem Arbeitgeber", schildert Miriam Mayer-Ebert, Head of General Services bei Audi, die Ausgangslage. Eine Lösung hat ihr Unternehmen zusammen mit dem Münchner Institut für sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) erarbeitet: Müssen Mitarbeitende ihre Arbeitszeit innerhalb einer Schicht reduzieren, übernehmen Personen aus einem Springerpool. "Das sind Mitarbeitende aus dem gleichen Bereich, die nicht taktgebundene Tätigkeiten haben und über eine Regelmäßigkeit in den Takt einspringen. So können wir es einrichten, dass für beide Seiten eine Planung möglich ist", erklärt sie.
Auch die Personen aus dem Springerpool profitieren von dem Projekt. Es sind zum Beispiel Mitarbeitende, die aufgrund gesundheitlicher Probleme nur noch stundenweise taktgebunden arbeiten können. Durch das Springermodell werden sie stundenweise in die Taktarbeit integriert. "Dieses Gefühl, auch weiterhin wertschöpfend eingesetzt zu sein, ist sehr motivierend. Es ist also aus meiner Sicht ein wirklich großer Win-win für beide Seiten", sagt Miriam Mayer-Ebert.
Teilzeit geht auch bei Taktarbeit
Für die betriebliche Personalplanung bedeutet das einen Mehraufwand – auch weil die An- und Abwesenheiten aktuell noch händisch nach Listen geplant werden. "Aber wenn man sich ansieht, wie motivierend es für die Mitarbeitenden ist, wie viel Selbstorganisation stattfindet, dann ist es in diesem Zusammenspiel aus Führungskraft, Mitarbeitenden, Betriebsratsvertretern wirklich ein sehr gutes Modell", so Miriam Mayer-Ebert. Vom Pilotprojekt bei Audi profitieren aktuell 16 Mitarbeitende, die derzeit von 30 Springern unterstützt werden. In Abstimmung mit den Abteilungen soll das Arbeitszeitmodell schrittweise ausgeweitet werden. Die Idee dafür kam aus den eigenen Reihen. Und die bisherige Umsetzung zeigt: Taktgebundenes Arbeiten und Teilzeit müssen sich nicht ausschließen.
Die Unternehmen müssen sich von der traditionellen Haltung lösen, dass alles einheitlich über einen Schichtplan läuft." - Jörg Herbers, Inform GmbH
Wie wichtig es ist, neue Denkweisen für die Produktion zu etablieren, bekräftigt Dr. Jörg Herbers, Geschäftsführer der Inform GmbH: "Die klassische Denke ist der Schichtplan, von dem nicht abgewichen werden kann. Aber Audi beweist, dass es doch geht, wenn man kreativ ist." Die Unternehmen müssen sich von der traditionellen Haltung lösen, dass alles einheitlich über einen Schichtplan läuft, so Herbers: "Es gilt, die verschiedenen Interessensgruppen wie in einem Tetris-Spiel zusammenzubringen und zu verschränken." Natürlich müssen dabei die betrieblichen Anforderungen weiter erfüllt werden. "Das ist eine wichtige Konstante in dem Spiel, das jedoch mit kreativen Mitteln neu gestaltet werden kann", so Jörg Herbers.
Workforce Management: Zweiklassengesellschaft vermeiden
Ein zentraler Aspekt für modernes Workforce Management in der Fertigung ist die Fachkräftesicherung. "Im Fertigungsbereich haben wir große Herausforderungen, Mitarbeitende zu gewinnen und zu finden", berichtet Bernhard Sommer, Vorsitzender der Geschäftsführung der Interflex Datensysteme GmbH, aus eigener Erfahrung. "Deshalb sind solche Ansätze genau richtig, um in dem mittlerweile stark umkämpften Markt für Schicht- und Produktionsbeschäftigte weiter gute und qualifizierte Leute zu gewinnen. Als Unternehmer muss ich Antworten auf diese Fragen geben und vermeiden, dass sich eine Zweiklassengesellschaft zwischen Produktion und Büro verfestigt", sagt er.
Wie bekommen wir es hin, dass diese Schere nicht weiter aufgeht? Wie können wir in der Produktion, in der wir nicht ganz so viel Flexibilität wie im Büro haben, attraktiver werden und diese Themen umsetzen? Diese Frage bewegt auch Roland Hehn, CHRO von Heraeus: "Die Pandemie hat die Unterschiedlichkeit von Blue Collar und White Collar verstärkt. Das haben nicht nur die Arbeitgeber festgestellt, sondern auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer." Eine Konsequenz sei, dass sich immer weniger Personen auf Positionen in Produktionsbereichen bewerben, weil diese Tätigkeiten aus Sicht der Beschäftigten unattraktive Arbeitszeiten oder Arbeitsmodelle mitbringen.
Der Veränderungsdruck steigt
Wie können diese Tätigkeiten wieder attraktiver werden? Nicht, indem sie weiterhin unbeachtet bleiben. "Es ist zwar mittlerweile im Trend, darüber zu sprechen, wie man die Schichtarbeit verbessert. Aber die Unternehmen, die tatsächlich handeln und in denen schon eine Betriebsvereinbarung dazu steht, sind seltene Ausnahmen", merkt Roland Hehn an. Seiner Erfahrung nach liegt es daran, dass der Druck, tatsächliche Veränderungen herbeizuführen, offenbar noch nicht hoch genug war. "Fragten die Mitarbeitenden vor zwei Jahren, ob es möglich ist, halbtags in Schichtarbeit zu arbeiten, war die Antwort ein klares 'Nein'. Durch den stark zunehmenden Fachkräftemangel und die Pandemie fängt jetzt ein Umdenken an. Jetzt wird sich erweisen, welche Unternehmen flexibel und schnell genug sind, auf diesen Zug aufzuspringen", meint er.
Heraeus zählt mit 16.000 Beschäftigten zu den großen Playern in Deutschland. Aber die Beschäftigten sind in vielen kleinen Einheiten tätig. Somit gibt es kaum Produktionseinheiten, die groß genug sind, um für diese spezialisierten Tätigkeiten Springerpools einzurichten. Jedes Unternehmen steht vor anderen Herausforderungen. Beim Technologiekonzern liegen diese in erster Linie darin, unattraktive Schichtzeiten zu besetzen. Während es vor zehn Jahren noch keine Probleme gab, Nacht- oder Wochenendschichten zu besetzen, weil es Zuschläge gab, ist die Lage heute ganz anders. Eine geplante Arbeitszeit, die in einem normalen Rhythmus stattfindet, oder Freizeit werden heute höher bewertet als zusätzliches Geld.
Schichtmodelle müssen attraktiver werden
"Auf Dauer kann das Problem der Fachkräftesicherung und Arbeitsplatzattraktivität in der Produktion nicht allein mit Geld gelöst werden. Die Lohnspirale kann nicht unendlich nach oben gehen, denn die Lohnstückkosten müssen wettbewerbsfähig bleiben. Daher sind attraktivere Arbeitsmodelle nötig", so Roland Hehn. In seinem Unternehmen wird über Systeme nachgedacht, bei denen sich die Produktionsgruppen selbst planen. Hilfreich sei auch, den Mitarbeitenden mehr Verantwortung in der Schichtplanung zu geben. "Die Nähe zu den Mitarbeitenden und deren Einbinden in die Notwendigkeiten der Schichtbesetzung sind der Schlüssel", meint Hehn.
Wie wichtig die Rolle der Führungskräfte hierbei ist, betont Miriam Meyer-Ebert. Nach ihren Erfahrungen besteht für die Beschäftigten ein großer Unterschied, ob sie einen Schichtplan für die nächsten Wochen vorgelegt bekommen oder diesen mitdiskutieren und organisieren zu können: "Wir haben 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ihren Wünschen in der Arbeits- und Schichtgestaltung befragt. Fast ein Drittel gaben an, dass sie ein Interesse an flexibleren Schichtmodellen oder Arbeitsmöglichkeiten in den Schichten haben."
Schichtarbeit und Gleitzeit – warum nicht?
Nicht jedes Unternehmen hat die gleichen Möglichkeiten, die Schichtarbeit zu flexibilisieren, aber jedes kann versuchen, Grenzen auszutesten und Neues auszuprobieren. "In Branchen, in denen es gewisse Freiheiten gibt, wann die Arbeit stattfinden kann, können Umschlags-, Kommissionier- oder Liefermengen innerhalb bestimmter Zeitfenster vereinbart werden. Dann muss der Arbeitsbeginn nicht zwingend um 6 Uhr sein. In diesen Fällen wäre Gleitzeit in der Schichtarbeit möglich. Früher galt das immer als Gegensatz: Gleitzeit oder Schichtarbeit – entweder oder", so Jörg Herbers. Er ruft die Unternehmen dazu auf, Grenzen auszutesten und sich zu fragen: Warum haben wir dieses klassische Schichtsystem? Könnte man auch flexibler auf die Anliegen der verschiedenen Arbeitnehmergenerationen eingehen?
Bernhard Sommer ergänzt: "Das ist übrigens keine Softwarefrage. Systemtechnisch ist so gut wie alles möglich, auch eine systemgestützte automatische Schicht- und Personalplanung unter Berücksichtigung individueller Mitarbeiterwünsche." Stattdessen müsse sich die Haltung in den Betrieben ändern, unter anderem müssten die Unternehmen auch ihren Mitarbeitenden in der Produktion mehr Vertrauen entgegenbringen. Was spricht dagegen, dass sie schon mit der Arbeit anfangen, bevor der Schichtleiter da ist? Braucht es wirklich jemanden, der ihnen zu jedem Schichtbeginn sagt, was zu tun ist?
Es geht darum, die Mensch-Maschine-Beziehung zu optimieren. Das hat viel mit Schulung, Führung und Verständnis zu tun." - Roland Hehn, Heraeus Holding GmbH
"Die wirklichen Produktivitätschancen, die wir haben, liegen bei Schichtbeginn, Pausenanfang und -ende sowie Schichtende. Wenn wir es schaffen, diese Zeitpunkte zu optimieren, können wir auch flexiblere Modelle einführen, die unabhängig von der Anwesenheit einer Führungskraft sind", sagt Roland Hehn. "Es geht darum, die Mensch-Maschine-Beziehung zu optimieren. Das geht weit über die reine Einsatzplanung hinaus und hat viel mit Schulung, Führung und Verständnis zu tun. Da liegen in der gut getakteten und organisierten deutschen Produktionslandschaft noch die Produktivitätschancen."
Aber all das heißt auch: Führung wird anspruchsvoller, wenn die Teams sich selbst organisieren. Und es wird eine Moderation benötigt. "Unternehmen, die eigenverantwortliche Schichtsysteme einführen wollen, müssen sich der Planungs- und Moderationsaufwände bewusst sein, die in der Praxis ungefähr eineinhalb Prozent ihrer gesamten Arbeitszeit und mehr betragen können", sagt Jörg Herbers. Dazu Miriam Mayer-Ebert: "Das ist ein Invest, den ich machen muss, aber ich erhalte wahrscheinlich eine viel besser aufgestellte und viel motiviertere Workforce."
Umdenken bei allen Beteiligten
Ein Konsens der Diskussionsrunde lautet: Neue Arbeitsmodelle in der Fertigung benötigen neue Denkweisen. Nicht nur muss HR dringend den Blick aus den Offices mit Desk-Sharing, Remote Work und Workation zurück auf die Bereiche lenken, in denen das Geld verdient wird, sondern auch die Führungskräfte und Mitarbeitenden müssen umdenken. "Die Schichtplaner müssen Verantwortung abgeben und Vertrauen zulassen. Früher galt für sie: Ich verplane Menschen, nur dann funktioniert meine Fertigung. Das haben wir über Jahre so gefördert, weil wir immer über Produktionseffizienz gesprochen haben.
Modernes Workforce Management ist ein HR-Thema und kein IT- oder Systemthema." - Bernhard Sommer, Interflex Datensysteme GmbH
Heute geht es darum, Self Services und Selbstbestimmung zu etablieren. Und es geht um die Frage: Wie schaffen wir es in so einer Fertigungseinheit, dass alle mit der gleichen Zielsetzung an diesem Thema arbeiten?", sagt Bernhard Sommer. Sein Appell: "Der Anstoß dazu und der Abbau von Widerständen muss von HR kommen. Es ist ein HR-Thema und kein IT- oder Systemthema."
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 7/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
Das könnte Sie auch interessieren:
Transformation der deutschen Automobilindustrie: Die große Disruption?
"Transformationen treffen oft auf Widerstand" - Interview mit Dietmar Eidens, CHRO von Merck
Interview mit Sascha Lobo: "Die digitale Transformation ist eine Bildungsfrage"
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber beachten müssen
1.993
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
1.713
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
1.500
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
1.276
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
1.249
-
Krankschreibung per Telefon nun dauerhaft möglich
1.129
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
1.031
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
709
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
514
-
Modelle der Viertagewoche: Was Unternehmen beachten sollten
390
-
Tipp der Woche: Mehr Inklusion durch KI
19.12.2024
-
Gleichstellung in Europa verbessert sich nur langsam
16.12.2024
-
Fünf Tipps für effektive Recruiting-Kampagnen zum Jahresstart
13.12.2024
-
Eine neue Krankenkasse als Zeichen der Fürsorge
11.12.2024
-
Wie Personalarbeit wirtschaftlichen Erfolg beeinflusst
10.12.2024
-
1.000 neue Fachkräfte für den Glasfaserausbau
09.12.2024
-
KI für eine inklusive Arbeitswelt
06.12.2024
-
Weihnachtsgeld: Wer bekommt wie viel?
05.12.2024
-
Mit Corporate Volunteering Ehrenamt ins Unternehmen bringen
05.12.2024
-
Die Angst vor KI lässt nach
05.12.2024