Eignungsdiagnostik: Prognosen und Warnungen aus der Wissenschaft
wirtschaft+weiterbildung: Wenn Sie heute zurückblicken. Was sind für Sie die wichtigsten Erfolge der Eignungsdiagnostik?
Prof. Dr. Heinz Schuler: In letzter Zeit – und es sind mehr die vergangenen Jahrzehnte als die vergangenen Jahre – hat es einige wichtige Entwicklungen in der Eignungsdiagnostik gegeben: Metaanalysen haben durch die gewichtete Zusammenfassung von Einzelstudien zu wirklich brauchbaren Erkenntnissen geführt, durch die man heute besser weiß, wo man noch weiterforschen sollte und wo es weniger sinnvoll ist. Unbestritten ist inzwischen, dass eine sorgfältige Analyse der Tätigkeitsanforderungen unerlässlich ist, um gute Eignungsdiagnostik zu betreiben. Auch hinsichtlich der Verbreitung brauchbarer Interviews und guter Methoden hat sich einiges getan, vor allem bei Großunternehmen mit aufgeklärten Personalabteilungen. Dort wird heute vielfach auf schriftliche oder gar handschriftliche Bewerbungen verzichtet, weil sie sich für den ersten Auswahlschritt als wenig geeignet erwiesen haben. Stattdessen werden verstärkt online-gestützte Verfahren bei der Vorauswahl eingesetzt.
wirtschaft+weiterbildung: Was sollte ein Personalmanager heute über Diagnostik wissen?
Schuler: Was mir besonders wichtig ist: Berufseignung heißt immer Eignung wessen wofür? Man muss also die erfolgskritischen Anforderungen eines Berufs oder einer Tätigkeit (auch Ausbildung) kennen und sie den wichtigsten Merkmalen der Person gegenüberstellen, ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen, Erfahrung und Interessen. Die Generalkategorie „Employability“ ist da wenig hilfreich. Das erfordert solide Verfahren der Anforderungsanalyse und ebensolche geprüfte Verfahren der Eignungsdiagnose. So wie eine medizinische Diagnose als Grundlage für eine Therapie erforderlich ist, ist auch die psychologische Diagnose die Grundlage für persönliche Beratung und Personalentscheidungen. Und wie in der Medizin sind nachfolgende Maßnahmen nur dann wirksam, wenn die Diagnose stimmt.
Empfehlenswerte Verfahren der Personalauswahl: Arbeitsprobe, Intelligenztest, strukturiertes Interview
wirtschaft+weiterbildung: Welche Verfahren empfehlen Sie dabei?
Schuler: Als besonders aussagekräftig haben sich Arbeitsproben, Intelligenz- und Wissenstests sowie strukturierte Einstellungsinterviews erwiesen. Für den systematischen Vergleich von Person und Anforderungen sind in den meisten Fällen quantifizierbare, skalierbare Informationen erforderlich. Typologische Verfahren wie zum Beispiel typologische Persönlichkeitstests in der Ideenfolge von C. G. Jung sind dafür untauglich. Personalmanager sollten lernen, bei den diagnostischen Angeboten die Spreu vom Weizen zu unterscheiden. Das ist allerdings nicht immer einfach. Und sie sollten wissen, dass sich der Nutzen der Eignungsdiagnostik kalkulieren lässt. Selbst zurückhaltende Schätzungen kommen zum Ergebnis, dass es kaum rentablere betriebliche Investitionen gibt als gute Eignungsdiagnostik. Und schließlich sollten sie auch nicht aus den Augen verlieren, dass Bewerber Mitmenschen sind, die Respekt verdienen und Zuwendung erwarten. Auswahlgespräche sind persönliche Begegnungen, die Vertrauen schaffen und beiden Seiten ein Gefühl dafür vermitteln, ob man zusammenpasst.
wirtschaft+weiterbildung: Viele Unternehmen setzen auf Persönlichkeitstests. Welche Rolle sollte die Persönlichkeit bei der Personalauswahl spielen?
Schuler: Gute, das heißt wissenschaftlich fundierte Persönlichkeitstests können dazu beitragen, den passenden Beruf oder die passenden Mitarbeiter auszuwählen. Auch hier muss man Personen mit den spezifischen Berufsanforderungen vergleichen. Für Polizisten ist etwa ein höheres Maß an psychischer Stabilität erforderlich als für Steuerbeamte. Altenpfleger sollten über ein ausgeprägtes Interesse an Menschen verfügen, Gärtner brauchen das wiederum nicht. Zudem ist aber zu beachten, dass Persönlichkeitstests keine hohe prognostische Validität haben, also keine hohe Treffsicherheit bei der Vorhersage. Sie sollten daher nicht als einziges Auswahlverfahren eingesetzt werden. Persönlichkeitstests sind zudem verfälschbar. Das führt dazu, dass im Einzelfall derjenige vorgezogen wird, der frecher lügt.
Warnung: Viele Persönlichkeitstests auf dem Markt taugen nichts
wirtschaft+weiterbildung: Auf dem Markt der Persönlichkeits- und Eignungstests überwiegen noch immer fragwürdige oder sogar unseriöse Verfahren. Selbst so abstruse Methoden wie die Physiognomik, bei der die Eignung einer Person anhand ihrer Nasenform bestimmt wird, erfreuen sich noch immer großer Beliebtheit. Warum halten sich fragwürdige Verfahren so hartnäckig?
Schuler: Weshalb glauben die Menschen seit Jahrtausenden an die Astrologie und geben Milliarden Euro für homöopathische Mittel aus? Die Welt war für den Menschen schon immer zu komplex, was aller Art von Glauben und Aberglauben Tür und Tor öffnet. Gute Verkäufer erreichen in vielen Fällen mehr als gute Validierungsdaten. Nicht die wissenschaftlichen Belege sind ausschlaggebend, sondern das geschickte Marketing. Diagnostische oder pseudodiagnostische Verfahren, die es verstehen, die Intuition der Kunden anzusprechen, die vertraut wirken und die Komplexität drastisch reduzieren, werden wir nicht aus der Welt schaffen können, zumal ihnen auch Placeboeffekte und Selbsttäuschungen in die Hände spielen. Obwohl für prognostische Prozesse und Verfahren mittlerweile die DIN 33430 für die Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik vorliegt, ist der Wildwuchs immer noch groß.
Prof. Heinz Schuler: „Obwohl für prognostische Prozesse und Verfahren mittlerweile die DIN 33430 für die Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik vorliegt, ist der Wildwuchs immer noch groß.“
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wirtschaft+weiterbildung: Wie kann sich ein Personalmanager am besten informieren?
Schuler: Hier gibt es Parallelen zur Medizin. So sollte man stets zumindest eine zweite Meinung einholen und ergänzend zu kommerziellen Anbietern einen neutralen Experten befragen, wenn man selbst nicht über ausreichende Kenntnisse verfügt.
Empfehlung: Personalauswahl multimodal gestalten
wirtschaft+weiterbildung: Eines der von Ihnen empfohlenen Prinzipien ist die Multimodalität. Was steckt dahinter?
Schuler: Es hat sich als fruchtbar erwiesen, diagnostische Informationen aus verschiedenen Quellen zu sammeln und zu kombinieren. Mein Lieblingsbeispiel dazu stammt aus der Astrophysik. Die enormen Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten sind nicht dadurch zustande gekommen, dass man immer leistungsfähigere, optische Teleskope gebaut hat, sondern dass man das All auch in anderen Wellenbereichen wie den Röntgen-, Gamma- und Radiowellen durchforstet hat. Eine solche Vielfalt können wir in der Diagnostik erreichen, indem wir etwa Tests, Arbeitsproben und biografische Daten kombinieren. Mit Tests ermitteln wir Eigenschaftsausprägungen, mit Arbeitsproben verfügbare Fertigkeiten. Und biografische Interviewfragen geben Aufschluss über berufsrelevante Erfahrungen, über das Verhalten in der Vergangenheit und die Konsequenzen daraus. Damit bekommen wir eine deutlich höhere Validität als mit einem Einzelverfahren. Ein Beispiel ist das multimodale Interview.
wirtschaft+weiterbildung: Genau das ist aber auch das Argument mancher Personalmanager, die neben einem Interview noch auf fragwürdige Tests setzen und erklären, dass könne ja nicht schaden und bringe noch zusätzliche Informationen.
Schuler: Würden Sie bei einem Pilzgericht auch hochgiftige Pilze dazufügen? Da genügt doch schon ein giftiger Pilz und das ganze Gericht ist verdorben.
Prognose: Künftig ersetzen Algorithmen die Diagnostiker
wirtschaft+weiterbildung: Schon heute gibt es zahlreiche Anbieter, die behaupten, mithilfe künstlicher Intelligenz und geheimer Algorithmen die Persönlichkeit eines Menschen berechnen zu können. Werden Diagnostiker überflüssig, weil Maschinen künftig besser sind?
Schuler: Derzeit gibt es überall Listen von Berufen, in denen Menschen künftig von Maschinen ersetzt werden. Psychologen landen regelmäßig am Ende dieser Listen, müssen also auf absehbare Zeit nicht um ihren Arbeitsplatz fürchten. Für die reinen Diagnostiker unter den Psychologen – wie auch unter den Medizinern – sieht es dagegen düster aus. Große Datenmengen und gute Programme vorausgesetzt, werden algorithmenbasierte Diagnosen voraussichtlich bald den menschlichen Diagnosen zumindest ebenbürtig, wahrscheinlich sogar überlegen sein.
Prof. Heinz Schuler: „Große Datenmengen und gute Programme vorausgesetzt, werden algorithmenbasierte Diagnosen voraussichtlich bald den menschlichen Diagnosen zumindest ebenbürtig, wahrscheinlich sogar überlegen sein.“
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wirtschaft+weiterbildung: Derzeit setzen einige Unternehmen bereits auf eine Sprachanalyse, die verspricht, anhand einer Sprachprobe herausfinden zu können, ob ein Bewerber für einen Job geeignet ist. Was halten Sie davon?
Schuler: Ein Analyseansatz aus einer einzigen Informationsquelle ist fast immer unzureichend. Die Angebote geheimnisvoller Ausdrucksdiagnosen schießen zurzeit wie die Pilze aus dem Boden. Da gibt es Verfahren, die aus der Wortlänge in den E-Mails die Intelligenz ermitteln wollen, aus dem Gesicht auf die sexuelle Orientierung schließen, aus den auf Instagram geposteten Fotos die Depression des Absenders diagnostizieren oder aus den Frequenzen unserer Stimme gleich ein ganzes Persönlichkeitsgutachten fertigen. Jeder dieser Ansätze mag vielleicht ein Quäntchen brauchbarer Information liefern. Aber keiner liefert eine ausreichende Diagnose. Soweit es sich um kommerzielle Anbieter handelt, sind die mitgelieferten Validitätsbehauptungen meist unfundiert und unglaubhaft. Ich glaube allerdings durchaus, dass sich gute multimodale und fundierte maschinelle Diagnosen bald als überlegen erweisen werden. Das theoretische Potenzial ist da, aber die Praxis derzeit noch unzulänglich.
Warnung von Prof. Heinz Schuler: „Die Angebote geheimnisvoller Ausdrucksdiagnosen schießen zurzeit wie die Pilze aus dem Boden.“
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wirtschaft+weiterbildung: Algorithmen analysieren stets nur Korrelationen, aber keine Kausalitäten. Spielt die Entwicklung von Theorien – als Grundlage von Kausalitäten – künftig keine Rolle mehr?
Schuler: Das ist ein weiterer heikler Punkt. Das Funktionsprinzip algorithmischer Diagnosen ist bislang das der Blackbox. Ein Beispiel: Die Vorstände der Dax-Unternehmen sind überwiegend männlich und im Schnitt 1,90 Meter groß. Ein Programm, das blind nach Erfolgszusammenhängen sucht, könnte diese Parameter für eine Prognose und Entscheidungsempfehlung aufnehmen. Pragmatisch gesinnten Anwendern mag das reichen. Für unseren sinnsuchenden Verstand ist es allerdings recht unbefriedigend, wenn das geistlose Prinzip der Mustererkennung die Oberhand behält.
wirtschaft+weiterbildung: Sie plädieren dafür, Bewerber fair und redlich zu behandeln. Wird das nicht automatisch obsolet, wenn Algorithmen irgendwelche Daten, zum Beispiel Facebook-Likes, durchforsten und daraus nicht mehr nachvollziehbare Schlüsse ziehen?
Schuler: Einerseits bieten gute Algorithmen die Möglichkeit, unfaire und voreingenommene Entscheidungen, wie sie Menschen nun mal oft treffen, zu vermeiden. Andererseits ist die Gefahr groß, dass uns bei maschinellen Automatismen das Verständnis für die Basis der Entscheidungen, also die einfließenden Variablen, ihre Gewichtung und Kombination, abhandenkommt und damit auch die Transparenz für die Betroffenen. Das ist das Gegenteil von sozialer Validität, wenn wir nicht wissen, wer wo welche Diagnosen für wen über uns einholt. Es ist zu befürchten, dass hier auch unsere berufsethischen Richtlinien nicht genügen. Denn die flinken Finger der Datenexperten und die merkantile Energie ihrer geschäftstüchtigen Auftraggeber könnten dafür sorgen, dass Gewissen und Verantwortung mit den technischen Möglichkeiten nicht mithalten können. Das Wissen vermehrt sich ganz offensichtlich schneller als die Weisheit, es sinnvoll zu gebrauchen. Wie man der künstlichen Intelligenz verlässlich und dauerhaft beibringt, nicht nur die menschliche Diagnostik zu überbieten, sondern dabei auch menschliche Tugenden wie Vertrauen, Güte und Rücksichtnahme walten zu lassen, ist noch offen.
Prof. Heinz Schuler: „Das Wissen [um KI] vermehrt sich ganz offensichtlich schneller als die Weisheit, es sinnvoll zu gebrauchen.
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Das Interview führte Bärbel Schwertfeger, freie Journalistin in München.
Heinz Schuler hatte von 1982 bis 2010 den Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Hohenheim (Stuttgart) inne. Er prägte das Fachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie entscheidend mit. So entwickelte er eine große Zahl psychologischer Tests und anderer eignungsdiagnostischer Verfahren, die auch international genutzt werden.
Hinweis: Das komplette Interview lesen Sie in Ausgabe 7+8/2018 der Zeitschrift „wirtschaft + weiterbildung“.
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