Hurra, hurra, nun können Bewerber endlich aufatmen! Nie mehr umständliches Hinzuziehen von Duden und Wikipedia, um die Inhalte der Stellenanzeige zu verstehen, nie mehr stundenlanges Ausfüllen nerviger Online-Formulare, nie mehr wochenlanges Warten auf einen Eingangsbescheid, nie mehr genervte Recruiter am Telefon, nie mehr unvorbereitete Personaler oder die ewig gleichen und hirnrissigen Fragen im Vorstellungsgespräch… Endlich steht der Bewerber im Mittelpunkt der Bemühungen der Unternehmen und Employer Branding bezieht sich nicht mehr ausschließlich auf die Kreativideen teuer eingekaufter Werbeagenturen.
2015 soll das Jahr der Kandidaten sein
Jedenfalls für dieses Jahr. Denn schließlich schreiben wir 2015 das Jahr der Kandidaten. Zumindest wurde es als solches ausgelobt von Jo Diercks (Cyquest), Gero Hesse (Medienfabrik Embrace) und Wolfgang Brickwedde (Institute for Competitive Recruiting, ICR). Eine schöne Idee – die Frage ist, was davon übrig bleibt. Und wie das Ganze funktionieren soll. Schließlich hat jede Medaille zwei Seiten.
Einmal gibt es da die so genannte „Candidate Experience“. Was sich dahinter verbirgt, ist an sich nicht neu, wurde nun aber in ein schmissiges „Buzzword“ verpackt, welches durch die verschiedenen HR-Blogs, -Gazetten und -Konferenzen gereicht wird. Der Begriff der „Candidate Experience“ umfasst all das, was ein Bewerber (= „Candidate“) im Laufe seines Bewerbungsprozesses im Umgang mit dem Unternehmen erlebt (= „Experience“) – egal ob Gutes oder Schlechtes. Und selbstverständlich tun Unternehmen alles nur Menschenmögliche, um Bewerbern das perfekte Erlebnis zu bescheren. Klar, denn Negativerfahrungen führen nicht unbedingt dazu, dass ein Unternehmen als positiver Arbeitgeber wahrgenommen wird. Oder anders gesagt: Ist das, was der Bewerber im Umgang mit dem Unternehmen erlebt, negativ, so färbt dies auch negativ auf die wie auch immer geartete Arbeitgebermarke ab. Ergo setzen die Unternehmen alle Hebel in Bewegung, um Bewerbern den roten Teppich auszurollen.
Es hapert noch an vielen Stellen im Recruiting
Wenn das wirklich so wäre, bräuchten wir kein Jahr des Kandidaten. Weder 2015 noch sonst irgendwann. Tja, und wenn das Wörtchen wenn nicht wär‘, wär‘ ich wohl schon Millionär. Und während ich fleißig daran arbeite, tüfteln natürlich viele Unternehmen an einem positiven Bewerbererlebnis. Oder sagen wir so: Ein kleines Heer, leidenschaftlicher und mit Herzblut agierender Recruiter oder Personalverantwortlicher versucht, daran zu arbeiten.
Denn da gibt es ein kleines Problem. Obwohl Recruiter, respektive Personalmarketing-Verantwortliche, strategisch entscheidend für das Überleben eines Unternehmens sind, gesteht man ihnen in den wenigsten Fällen diese Rolle zu. Im Verhältnis zu den Hoheiten aus Marketing und Vertrieb, wird dem Personalmarketing eher die Rolle der grauen Maus zugedacht. Was sich dann beispielsweise im Budget niederschlägt. Denn dieses macht in der Regel nur einen Bruchteil des Marketingbudgets aus. Oder noch schlimmer: Die Rolle des Verwalters gefällt besser, als die des aktiven Gestalters. Wie aber soll das Unternehmen damit den Klauen des hinter jeder Ecke lauernden Fachkräftemangels entrinnen?
Alles beim Alten: Recruiter verweigern sich den Neuerungen
So kämpfen nicht nur Bewerber mit technisch unzureichenden und die Nerven strapazierenden Online-Formularen, sondern Recruiter für den Einsatz neuer Recruiting-Technologien. Also: Weg von der den Bewerber vergraulenden Bewerbung via SAP E-Recruiting, hin zur simplen Online-Bewerbung via One-Klick und CV-Parsing? Weg von der zum x-ten Mal erfolglos geschalteten Stellenanzeige, hin zur auf die Zielgruppe zugeschnittenen Microsite? Nein, macht man natürlich nicht, weil man ja immer schon so gehandelt hat und da hat das auch funktioniert.
Es ist eben nicht nur das Budget: Es ist oftmals auch der Mensch, der an den Recruiting-Hebeln sitzt. Und diese sträubt sich oft hartnäckig, sich mit neuen Technologien oder einem veränderten Werteverständnis der Bewerber auseinanderzusetzen. Das aber wiederum ist entscheidend für eine positive Bewerbererfahrung.
Selbst testen, selbst verbessern
Mein Tipp: Einfach mal selbst beim Unternehmen bewerben. Nicht selten tun sich da Abgründe auf. Wer die beseitigt, geht schon einmal einen Schritt in die richtige Richtung. Andernfalls bleibt das Jahr des Kandidaten wohl nichts weiter als ein Strohfeuer.
Henner Knabenreich ist Geschäftsführer der Knabenreich Consult GmbH. Er berät Unternehmen bei der Optimierung ihres Arbeitgeberauftritts. Zudem ist er Initiator von www.personalblogger.net und betreibt selbst den Blog personalmarketing2null.de.