Am Wochenende hat meine Lokalzeitung einen deutlich dickeren Umfang als werktags. Dies liegt längst nicht mehr an den Stellenanzeigen. Die werden in Print-Medien dünn und dünner, bevor sie in wenigen Jahren vermutlich ganz verschwinden. Stattdessen versuchen sich Journalisten zur Leserbindung im regionalen Content. Auf der samstäglichen Kinderseite interviewen sie wöchentlich einen Grundschüler zu wichtigen Lebensdingen. Unlängst antwortete der achtjährige Cäsar auf die Frage, was er denn noch gerne lernen wolle: "Lernen will ich nichts mehr".
Binsenweisheit lebenslanges Lernen?
Vermutlich hat der Bub mit seinem kaiserlichen Vornamen auch das entsprechende Selbstbewusstsein von seinen Eltern mitbekommen. Chapeau, mit acht Jahren bereits ausgelernt. Wo doch mittlerweile alle vom lebenslangen Lernen sprechen und dies als Binsenweisheit im Talent Management anpreisen.
Welche Karrierechancen hat Klein-Cäsar mit seiner Einstellung "Lernen will ich nichts mehr"? - "Keine guten!", wäre der Reflex eines mainstreamigen Talent Managers. Doch diese Kolumne möchte nicht nur das Gängige nachplappern, sondern Dingen auf den Grund gehen.
Drei alternative Spekulationen
Erstens: Wer Cäsar heißt, hat seinen Vorsprung bereits eingebaut und kann sich nachlässige Unterdurchschnittlichkeit ohne Minus für sein Dasein als Talent erlauben. Lernen ist und bleibt etwas für Aufstiegsorientierte. Ganz oben angekommen wird man zum Lehrer und ist nicht mehr Lerner. Das gilt für Cäsaren, Vorstände und weitere Endstationen eines Talents.
Zweitens: Ende des Lernens bedeutet noch längst kein Ende des Antwortens. Müssen sich nicht gerade Talente auch in unbekannten Gefilden sicher bewegen können? Wissen kann schaden, wenn zu üppig über eine Antwort nachgedacht wird oder diese langatmig und damit langweilig ausfällt. Dies will doch heute keiner mehr. Kurze Frage und klare Antwort, am besten mit einem verklärten, verschmitzten, verzaubernden Lächeln, je nach Zielgruppe. Für das Zeitungsfoto hat Klein-Cäsar die spitzbübische Variante gewählt.
Drittens: Es ist in diesen Zeiten mit kurzen Halbwertszeiten des Wissens ohnehin klar, dass niemand jemals ausgelernt haben wird. Zumal sich selbst die eifrigsten Talente stets bewusst machen müssen, dass ihr Lernen, also der Erwerb von Wissen, der deutlich größeren Erzeugung von Wissen in unserer Welt immer mehr hinterherhechelt. Der Abstand vom kollektiven zum individuellen Know-how wird trotz Wikipedia, Google & Co. von Tag zu Tag dramatischer. Genau darauf möchte Klein-Cäsar aufmerksam machen. Er setzt mit seiner provokanten Aussage eine wichtige Botschaft an alle Talente: Hey Kinder, entspannt euch. Lernen ist nicht alles im Leben!
Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.