Weniger Selbstdarstellung, mehr Sachlichkeit
Wenn alle im Homeoffice arbeiten müssen, schlägt die Stunde von Zoom, Webex, Go to Meeting oder Jitsi. Vielstimmig sind dabei die Klagen über technische Schwierigkeiten bei der Handhabung der Tools ("Du musst dein Mikrofon wieder einschalten!") oder bei der Datenübertragung ("Du musst dich vielleicht einfach nochmal einwählen."). Viel interessanter als diese Probleme, für die sich nach einiger Zeit Lösungsroutinen einstellen, ist aber die Frage: Was leisten internetbasierte Interaktionen – und wo erweist sich ihre Begrenztheit als Vorteil?
Virtuelle Kommunikation: Trotz vielfältiger Möglichkeiten ...
Viele Mechanismen, die für Interaktionen unter Anwesenden üblich sind, lassen sich heute über Plattformen wie Zoom, Go to Meeting, Webex, Jitsi oder Microsoft Teams simulieren - in 3D-Umgebungen wie Tricat sogar unter Zuhilfenahme eines Avatars, mit dem sich Face-to-Face-Gespräche nachbilden lassen. All diese Tools bieten die Chance, Dutzende von Personen audiovisuell zusammenzuschalten. Man kann dabei über die Plattformen nicht nur die Stimmen der Interaktionsteilnehmer hören, sondern auch ihre Gesichter und häufig sogar einen Teil ihrer Körper sehen. Man kann Aufmerksamkeit fokussieren, indem man alle auf einen Bildschirm mit einer Präsentation, einem Bild oder einem Film schauen lässt; man kann die Diskussion für alle mitvisualisieren oder alle gleichzeitig an einem Dokument arbeiten lassen. Man kann Kleingruppeninteraktionen initiieren, zwischen diesen hin- und herwandern und über die Chatfunktion oder über parallel laufende Kommunikationsplattformen Nebengespräche führen.
... bleibt die wechselseitige Wahrnehmung eingeschränkt
Und doch bleibt auch bei den modernsten Tools der internetbasierten Interaktion die wechselseitige Wahrnehmung eingeschränkt. Wie bei der Kommunikation unter Anwesenden nimmt man sich zwar akustisch und visuell wechselseitig wahr. Aber insbesondere das Zusammenspiel von sprachlichen Äußerungen mit den nonverbalen Aspekten von Mimik, Gestik, Körperhaltung oder Blickverhalten sowie die Verbindung mit paraverbalen Äußerungen wie Kichern, Stöhnen oder Lachen erweist sich im Fall der Interaktion unter Abwesenden als eher schwierig. Internetbasierten Interaktionen fehlt oft die Spannung einer interessanten Diskussion. Der Ausdruck persönlicher Achtung für einen klugen Gedanken über ein virtuelles Sternchen oder Herzchen in der internetbasierten Interaktion ist im Vergleich zum anerkennenden Nicken in der Interaktion unter Anwesenden eher grob; Scherze eignen sich in der internetbasierten Interaktion unter Abwesenden nicht besonders gut zur Entspannung und auflockernde Witze führen selten zu einer gefühlsmäßigen Ansteckung der Interaktionsteilnehmer. In der internetbasierten Interaktion lacht jeder zeitversetzt und mehr oder minder für sich allein.
Reduzierte Ausdrucksmöglichkeiten als Chance
Für die außerhalb von Organisationen typischen Formen der geselligen Kommunikation kann man diesen Mangel an Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten mit guten Gründen beklagen. Gerade dort werden die negativen Effekte der beschriebenen Begrenzungen deutlich: Zu zweit mag man sich über Telefon, Facetime oder über Skype "festquatschen", von ausufernden internetbasierten Feiern über Internetplattformen ist bisher nichts bekannt.
Für die ungesellige Interaktion, die für die Kommunikation in Organisationen typisch ist, kann jedoch gerade dieser Mangel an Ausdrucks- und Wahrnehmungschancen durchaus positive Effekte haben. Gerade Interaktionen in Organisationen können darunter leiden, dass in der Interaktion unter Anwesenden zu vieles aneinander wahrgenommen wird, was für das Diskussionsthema nicht relevant ist. All das, was man dann voneinander wahrnimmt, erfordert eigene Aufmerksamkeit – und diese geht nicht selten zulasten der Aufmerksamkeit für das Wesentliche.
Fokussierung auf die Sachdimension
Gerade das Fehlen paraverbaler und nonverbaler Elemente ermöglicht in der Interaktion unter Abwesenden die Fokussierung auf die Sachdimension. Gemeint ist eine "Büroatmosphäre", die sich fast zwangsläufig in internetbasierten Interaktionen in Organisationen ausbildet. Nutzt man die Chance, die Diskussion parallel zu visualisieren und konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf diese Visualisierung, wird die Fokussierung auf die Sachdimension weiter unterstützt.
Diese Konzentration auf Sachthemen wird allerdings erkauft durch Defizite in der Sozialdimension, weil den Beteiligten bei der Kommunikation unter Abwesenden eine Reihe von Möglichkeiten zur Selbstdarstellung als Person fehlen. Was bei geselliger Interaktion außerhalb von Organisationen als problematisch erlebt wird, kann bei Interaktionen innerhalb von Organisationen allerdings von Nutzen sein.
So wird beispielsweise in Mitarbeitergesprächen die Diskussion von Themen häufig dadurch überlagert, dass Untergebene wie Vorgesetzte stark mit ihrer Selbstdarstellung beschäftigt sind. In solchen Fällen kann es von Vorteil sein, das Gespräch internetbasiert zu führen – nicht nur in akuten Krisenzeiten, sondern auch darüber hinaus. Vergleichbares lässt sich bei Gesprächen mit Fachexperten oder der Abstimmung von Sachfragen feststellen, die ebenfalls durchaus davon profitieren, dass Selbstdarstellungsthemen zwischen den Beteiligten mangels Gelegenheit eine untergeordnete Rolle spielen.
Kürzere Zeitblöcke bewähren sich
Interessanterweise hat der Verlust von Selbstdarstellungsmöglichkeiten auch Auswirkungen auf die Zeitdimension: Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer, weil es an entspannender Ablenkung in Form einer kurzen Verständigung mit der Nachbarin, eines kurzen Seitenblicks auf einen attraktiven Gesprächspartner oder eines abschweifenden Blicks durch den Raum fehlt. So lassen sich Interaktionen unter Abwesenden meist weniger lange durchhalten wie Interaktionen unter Anwesenden. Das erklärt auch, weshalb sich bei internetbasierten Interaktionen die Gliederung in kürzere Zeitblöcke ebenso bewährt hat wie ein rigideres Zeitregime.
Durch technische Filterwirkung Interaktionen neu gestalten
Das alltägliche Klagen über instabile Netzverbindungen, limitierte Ausdrucksmöglichkeiten und Probleme in der Beherrschung der Technik verweisen lediglich auf die technischen Begrenzungen der Interaktion unter Abwesenden. Aus Sicht derer, die auf produktive Interaktionen innerhalb von Organisationen angewiesen sind, erweist es sich dagegen als deutlich interessanter, die technischen Möglichkeiten in der Interaktion unter Abwesenden teilweise bewusst nicht auszuschöpfen, um diese zielgerichtet und sachorientiert gestalten zu können. So wird in Zweiergesprächen die Videofunktion oftmals ausgeschaltet, um zu verhindern, dass die Teilnehmer zu stark mit ihrer visuellen Selbstdarstellung in der Interaktion beschäftigt sind. Oder in Seminaren wird die Chat-Funktion deaktiviert, um die Diskussionen für alle sichtbar auf dem Bildschirm visualisieren zu können.
Die technische Filterwirkung in der Interaktion unter Abwesenden ist also nicht nur eine beklagenswerte Limitierung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern im Gegenteil: Sie bietet vielfältige Chancen zur Gestaltung der Interaktionen in Organisationen!
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