Was Unternehmen bei New Work vermeiden sollten

Wenn Unternehmen New Work ohne entsprechendes Kulturverständnis als Konzept oder Methode einführen, scheitern sie in der Regel. Sie werden nicht agiler – im Gegenteil. Unterstützt von hippen New-Work-Beratungen machen sie Mitarbeitenden das Arbeitsleben schwer. So kann New Work vom Herzeige-Etikett für Arbeitgeber schnell zu "New Würg" werden, vor dem alle lieber das Weite suchen.  

Wie New Work zum Unternehmen Kaltenburg kam, dazu gibt es einen Ort, eine Zeit und eine Geschichte. Jedes Jahr organisiert die IHK Pfalz im Januar einen Neujahrsempfang in der Festhalle Zweibrücken. Auf die grell ausgeleuchtete Bühne trat der Geschäftsführer der Unternehmensberatung Agile ­Elves aus Berlin. Der Vizepräsident der IHK schaffte es nicht, alle Titel von Leif Blökhunder aufzuzählen, und brach irgendwann ab: Agile Coach, New-Work-Evangelist, NLP-Businesscoach, Keynote High Professional, Design Thinking Coach, Ad­vanced Feel-Good-Manager, Mindset- und Business-Mentor und vieles mehr. Alfred Kaltenburg, alleiniger Inhaber des Unternehmens Kaltenburg, war beeindruckt. Leif Blökhunder sprach von Krisen und der sogenannten VUKA-Welt. Der Vortrag war reich bebildert und Leif hatte für alle Herausforderungen ein Rezept: New Work. 

So nahm eine Verkettung unglücklicher Missverständnisse und Entscheidungen ihren Lauf, die das Unternehmen letztlich in die Irre führte. 

Was nicht passt, wird passend gemacht 

In meinem Buch "New Work Dystopia" zeige ich am fiktiven Beispiel des Automobilzulieferers Kaltenburg*, was man bei New Work alles falsch machen kann. Das ist aber kein Einzelfall. Eingeflossen sind dabei Beobachtungen aus verschiedenen Organisationen sowie die aktuelle organisationspsychologische Forschung aus dem Bereich New Work und Empowerment. Seit 2019 führen wir etwa das New-Work-Barometer durch und forschen zu den Konsequenzen verschiedener New-Work-Maßnahmen wie der agilen Projektarbeit. 

Es war wie Zauberei, was Leif Blökhunder auf der Bühne veranstaltete. Es wirkte wie eine Offenbarung. New Work konnte scheinbar alles. Der Kaltenburg-Inhaber hörte und glaubte verstanden zu haben, dass man den Mitarbeitenden mehr Verantwortung und mehr Selbstbestimmung übertragen müsse, dann würden sie auch mehr arbeiten und wären noch glücklich dabei. Während der Weinverkostung erzählten seine Pfälzer Wirtschaftskollegen, dass sie gerade auch etwas mit diesem New Work machten. Der Logistikunternehmer berichtete von Coachings, die alle Führungskräfte machen müssten. Beim IT-Dienstleister aus der Nachbarstadt praktizierten sie ein Scrum, Drum oder Plum, aber auf jeden Fall irgendwas Wichtiges. Sogar beim alten Ochsmann in der Chemiefabrik gab es New-Work-Leadership-Trainings. Alfred musste sich dann noch anhören, dass die meisten in der Runde ihren Verwaltungsleuten zwei Tage Homeoffice pro Woche gewährten. Das war auch noch New Work. Alfred verließ die Veranstaltung früh und fragte den Fahrer seiner Limousine auf der Rückfahrt, ob der schon mal was von New Work gehört habe. Der verneinte und meinte, dass das übersetzt doch lediglich neue Arbeit hieße. Neu könne doch dann sehr viel sein. Das beruhigte Alfred ein wenig, doch am nächsten Tag rief er seinen Kumpel und Chefstrategieberater Harald Harkonnen an und ging sein New-Work-Projekt an.

Irrtum 1: Verantwortliche auf verschiedenen Entscheidungsebenen lernen früh, dass der Begriff New Work maximal dehnbar und benutzbar ist. Sie glauben, New Work sei ein Zauberhut, in den man alles hineinstecken und herauszaubern kann, was man will.

Wir werden flacher – das Hierarchie-Harakiri

Schnell schafften die Consultants der Unternehmensberatung Harkonnen eine Menge Literatur dazu herbei, dass steile Hierarchien ein großes Übel der modernen Arbeitswelt seien. Denn sie verhinderten, dass das Wissen und die Kreativität frei und schnell genug fließen. Wer zu steil ist, der kann nicht innovativ sein. Also sei es nur logisch, dass man sich verflachen müsse, wurde den Mitarbeitenden erzählt. Die Angst wurde hochgefahren, dass, wenn man jetzt nicht sofort handelt, morgen die Ideen und übermorgen der Umsatz fehlen würden. 

Das eigentliche Interesse der Unternehmensspitze war aber, Kosten zu sparen. Führungskräfte kosten Geld. Also bekamen die Gruppen- und Schichtleitenden Aufhebungsverträge angeboten. Den meisten Mitarbeitenden war es zunächst egal, ob es eine Führungsebene mehr oder weniger gab. Erst als die Gruppenleitenden ein paar Wochen weg waren, merkten sie, dass sie mehr Führungsaufgaben selbst übernehmen mussten und dass das ein ganz schön anstrengendes Unterfangen sein konnte. Auch dauerten viele Entscheidungen plötzlich länger, weil die Abteilungsleiter für die dreifache Anzahl an Mitarbeitenden und Prozessen zuständig waren. Es nervte, dass die Freigabe eines Urlaubsantrags doppelt so lange dauerte. Noch mehr stresste es die Beschäftigten, dass sie viel länger warten mussten, bis ihnen die Führungskräfte ein Feedback gaben, ob sie mit bestimmten Lösungen von Problemen einverstanden waren. Doch nicht nur der Stress nahm zu, sondern auch die Konflikte und die Anzahl an Fehlern. Die Kaltenburger hatten eine Hierarchieebene entfernt, aber sie hatten nichts, aber auch gar nichts, in und an ihrer Zusammenarbeit verändert. Die Macht und vor allem die Entscheidungsmacht wurde nicht nach unten delegiert, sondern sie wanderte zu den Führungskräften auf den nächsthöheren Ebenen. Dort entstanden Flaschenhälse, also Engpässe, weil in der neuen Organisation sehr viel mehr Entscheidungen auf dieser Ebene getroffen werden mussten. Auch war die hierarchische Kultur, die von Bürokratie und Kontrolle geprägt war, vollständig erhalten geblieben. Eine Hierarchieebene war weg, aber sie spukte wie ein Geist auf der nächsten Ebene weiter. Und dort spukte es jetzt richtig schlimm.

Nach einigen Monaten hatten die Mitarbeitenden bei Kaltenburg die Angst verloren, dass sie aufgrund von zu viel Hierarchie zu wenig innovativ sein könnten. Sie hatten Angst, dass sie viele grundlegende Arbeitsprozesse aufgrund des Hierarchie-Harakiris nicht mehr gewährleisten könnten.

Irrtum 2: Wenn Unternehmen Hierarchieebenen herausnehmen und Selbstbestimmung gewähren, ohne die Macht neu zu verteilen und ohne zu prüfen, ob Beschäftigte auf Selbstorganisation vorbereitet sind, kann es zu einem Führungsvakuum kommen – und in der Folge zu Chaos und Überlastung.  

Allein im Großraumbüro – die Bürobeleidigung

Während der Pandemie wanderten viele Kaltenburger ins Home­­office. Gleichzeitig musste Alfred Kaltenburg weitere teure Büroflächen mieten, weil die Zentrale über die Jahre zu klein geworden war. "Jetzt sitzen die zu Hause und ich zahle denen die schicken Büros in der Innenstadt", dachte der Inhaber und ärgerte sich über vermeidbare Kosten. Also wurde ein Architektenbüro beauftragt, das auf seiner Homepage angab, New Work Spaces erlebbar zu machen. Sie nannten sich die Architekten der Freiheit.  

Eine Arbeitspsychologin, die mit den Architekten der Freiheit zusammenarbeitete, schlug eine Arbeitsanalyse vor. Sie wollte zunächst die Zeiten für verschiedene Tätigkeiten sowie die Arbeitsbedürfnisse der Arbeitsgruppen explorieren. Das passte Alfred überhaupt nicht. Er hielt nicht viel von Psychologinnen und wollte Tempo in den Prozess bringen. Wenn die Leute aus dem Pandemie-Homeoffice kriechen, sollte alles fertig sein. Er redete mit dem Chefarchitekten, der das Projekt leitete, und bemerkte, dass der ganz anders war. Nach 15 Minuten Gespräch hatten die Herren die Arbeitspsychologin aus dem Projekt entfernt.

Die neuen Räume waren hell und bunt. An einer Wand am Eingang stand sogar in Magenta und Großbuchstaben: NEW WORK. "Viele Holzelemente geben den Räumen etwas Warmes, Herr Kaltenburg", sagte der Architekt und fuhr fort: "Wärme und Natur werden Vertrauen und Heimatgefühle auslösen. Der Pfälzerwald ist ja nicht weit weg." Welche Gefühle die Räume stimulierten, bekam der Architekt nicht mit. Denn die Psychologin, die eine Evaluation des Umbaus nach drei Monaten vorgeschlagen hatte, war nicht mehr da.

Die Mitarbeitenden spüren die Natur, doch in einer anderen Art und Weise, als das geplant war. Viele gehen nun früher auf die Arbeit und können die Rotkehlchen im benachbarten Park bei Sonnenaufgang singen hören. Sie kommen früher, um sich für den Tag ein gutes Arbeitsterritorium zu sichern. Es gibt gute und schlechte Plätze. An den schlechten ist es laut und man wird häufig unterbrochen. Also konkurrieren die Kollegen täglich um die guten Arbeitsplätze. Manche reservieren sie mit einer Jacke oder anderen Sachen über Nacht. Sie sind erfahrene Poolliegenbesetzer.

Haben die Mitarbeitenden einmal den Kampf um einen guten Arbeitsplatz verloren, richten sie sich für den Tag genervt in der Fläche ein, ziehen ihre Kopfhörer auf und signalisieren damit, dass sie nicht gestört werden möchten. Das führt zu einer paradoxen Situation. Es ist gleichzeitig sehr leise und sehr laut in diesen offenen Büroteilen. Einige Gespräche sind von überall zu hören. Viele andere Kollegen aber sind stumm. Sie reden nicht mehr direkt miteinander. Stattdessen schreiben sie eine Nachricht via Mail oder Whatsapp. Dadurch hat die asynchrone Kommunikation sehr stark zugenommen. Die künstliche Intelligenz der Kaltenburger hat herausgefunden, dass die Anzahl der Teams-Nachrichten und internen E-Mails um 58 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist die Produktivität erheblich zurückgegangen. Aber diesen Zusammenhang hat die KI noch nicht entdeckt.

Irrtum 3: Viele Unternehmen sind der Meinung, sie müssten ihre Bürokonzepte nicht individuell anpassen. Sie führen keine evidenzbasierte Situationsanalyse durch und lassen sich von vermeintlichen Kostenspar-Aspekten oder den Vorlieben der Führungskräfte leiten. 

New Work soll auch digital sein

Kaltenburg wollte als modernes Unternehmen New Work auch digitalisieren und zwar mit der KI Piter. Zuerst übernahm Piter die einfachen kognitiven Aufgaben. Die Kaltenburger reichten bei Piter die Urlaubsanträge ein und rechneten damit Reisekosten ab. Das entlastete die HR-Abteilung. Ein paar Personalverantwortliche dachten zunächst, dass dies jetzt endlich mal richtiges New Work sei, denn ihnen wurden viele langweilige und aufwendige Aufgaben abgenommen. Doch die Entlastungen führten zu Entlassungen. 

Die zweite Funktion von Piter ist die Sammlung von Daten – zum Beispiel um im Lager die Übersicht zu behalten, wo sich eine Überkapazität entwickeln könnte. Doch Piter sammelt auch Daten über Menschen und kontrolliert diese genauso wie Maschinen, denn die Kaltenburger denken ihr ganzes Unternehmen als Maschine. Piter muss in der agilen Projektarbeit informiert werden, wenn der nächste Projektschritt abgeschlossen wurde. Piter ist auch bei den Reviews dabei und zeichnet diese auf. Piter analysiert, was die Kaltenburger im Homeoffice tun und wie oft sie im Büro sind. Dafür war es ein unverzichtbares Glück, dass Alfred seinen Betriebsrat "im Griff" hat. In einem nächsten New-Work-Projekt entwickelte Kaltenburg Piter zu einer generativen KI weiter. 

KI, die alles wissen will

Ein Jahr lang wurde Piter mit allen Dokumenten gefüttert, die Alfred Kaltenburg jemals verfasst hat. Die Mitarbeitenden mussten Briefe und Reden einscannen. Piter durfte alle Mails nutzen und den Inhaber sogar in Gesprächen belauschen. Die Führungskräfte können ab sofort wie Alfred Kaltenburg führen, ohne ihn mit Fragen belästigen zu müssen. Denn Piter hat bei dem Inhaber gelernt und nutzt diese Datenbasis für die Antworten. Alfred will mit Piter das Thema Führung auf eine nächste Stufe heben. Endlich können alle so erfolgreich führen, wie er es seit Dekaden praktiziert. Alfred liebt dieses New Work sehr.

Irrtum 4: Unternehmen glauben, Digitalisierung und insbesondere KI mache sie schlauer. Dabei potenzieren sie oft nur bisherige Führungsstile und bestehende Vorurteile und machen sie zum Standard in der gesamten Organisation.

Fazit: New Work muss zur Kultur passen

"Fair is foul, and foul is fair", lässt William Shakespeare im Theaterstück Macbeth (Akt 1, Szene 1) seinem tragischen Helden zurufen. Etwas Gutes kann schlecht sein und etwas Schlechtes gut. Ähnlich gilt das für New Work. Der Begriff stammt aus einer Sozialutopie von Frithjof Bergmann, der die Menschen mit New Work von der Lohnarbeit und dem Taylorismus befreien wollte. 

Heute wird New Work mit verschiedenen relativ wahllosen Methoden wie Open-Space-Büros, agiler Projektarbeit und Home­office assoziiert. Und ob diese Methoden tatsächlich positive Wirkungen entfalten, das hängt stark von der Organisationskultur ab.

Zur  Banalisierung kommt vermehrt die Instrumentalisierung des Begriffs, um einen Change-Prozess attraktiver und weniger bedrohlich klingen zu lassen. New Work wird zum Schleifchen und Geschenkpapier. Alle New-Work-Maßnahmen, das zeigt das Beispiel der Kaltenburger, können Unternehmen je nach Haltung der Führungskräfte für oder auch gegen die Mitarbeitenden einsetzen. Schnell schlittern Unternehmen wie Kaltenburg in ein New-Work-Projekt und scheitern. Damit ist der Begriff und das Thema in der Mitarbeiterschaft verbrannt. 

Stattdessen sollten Unternehmen sich zunächst um die organisationspsychologischen Voraussetzungen in ihrer Organisation kümmern. Passen die expliziten und impliziten Regeln zu New Work? Liegt eine stimmige Kultur für New Work vor und haben die Mitarbeitenden die dafür notwendigen Kompetenzen? Dies kann man mit guter Organisationsdiagnostik herausfinden. Falls die Voraussetzungen nicht passen, gibt es nur zwei Optionen: Entweder arbeiten Unternehmen ernsthaft an den Voraussetzungen oder sie lassen es mit New Work.

*Anmerkung: Fiktives Modell Kaltenburg

Das Unternehmen Kaltenburg ist ein dystopisches und daher fiktives Unternehmen. Kaltenburg wurde 1902 in Pirmasens gegründet. Alleiniger Inhaber ist seit 1975 Alfred Kaltenburg. Derzeit gehören 2.350 Mitarbeitende zu Kaltenburg. Ursprünglich aus der Schuhindustrie stammend, arbeiten die Kaltenburger heute in vier Bereichen: ­­­­​1. Autositzbezüge und Innenausstattung von Kraftfahrzeugen, 2. Autohäuser, ­­3. Tankstellen, 4. Software für Tankstellen, Autohäuser und Autos.

Der Text stammt gekürzt aus dem Buch "New Work Dystopia" (Haufe, 2023). Der Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 9/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


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