Anschreiben zählen in den meisten Unternehmen zu den wichtigen Bausteinen eines jeden Auswahlverfahrens. Eine Studie aus dem Jahr 2016 skizziert dabei, worauf besonders häufig geachtet wird. Ich habe die Ergebnisse für Sie zusammengefasst - und ordne sie gleich einmal ein:
- Mehr als 90 Prozent der Arbeitgeber interessieren sich für Tipp- oder Grammatikfehler. (Dass Gabelstaplerfahrer besser mit der Gabel stapeln können, wenn sie im Anschreiben keine Tippfehler aufweisen, erschließt sich sogleich jedem unvoreingenommenen Betrachter.)
- Mehr als 80 Prozent der Personaler wollen etwas über die Bewerbungsgründe lesen und erfahren, warum der Bewerber glaubt zu der ausgeschriebenen Stelle zu passen. (Natürlich erzählen die Bewerber bei dieser Gelegenheit ganz ehrlich, dass sie sich bei zehn anderen Unternehmen beworben haben und eigentlich nur einen Arbeitsplatz in Haselünne suchen, weil hier all ihre Freunde wohnen.)
- Mehr als 50 Prozent möchten wie in der guten alten Zeit auch weiterhin ein Bewerbungsfoto sehen. (Top-Führungskräfte verfügen bekanntlich über einen leicht gebräunten Tein und können mit ihren schneeweißen Zähnen kraftvoll zubeißen.)
- Knapp 40 Prozent lassen sogar die Länge des Anschreibens in ihre Vorauswahl einfließen. (Eine gute Chemielaborantin versteht es, sich kurz zu fassen, nur eben nicht zu kurz.)
- Etwa ebenso viele Verantwortungsträger wollen persönlich angesprochen werden. (Und sich nicht etwa durch ein abstraktes "Sehr geehrte Damen und Herren" zu einem gesichtslosen Wurm degradieren lassen.)
Ein erfolgreicher Bewerber ist offenbar jemand, der sich brav an die jahrzehntealten Initiationsriten der Ratgeberliteratur hält, ganz gleich ob dies etwas über seine Eignung für die späteren Arbeitsaufgaben aussagt oder nicht. Doch könnte es nicht sein, dass derartige Kriterien tatsächlich einen tieferen Sinn haben?
Zusammenhang von Persönlichkeit und formalen Kriterien im Anschreiben
Eine aktuelle Studie aus Deutschland geht erstmals der Frage nach, inwieweit formale Kriterien im Anschreiben in einem Zusammenhang zu Persönlichkeitsmerkmalen der Bewerber stehen. Untersucht werden 127 reale Bewerber in einem Großunternehmen.
Im Ergebnis zeigte sich zunächst, dass sich viele, aber bei weitem nicht alle Bewerber, schön regelkonform verhalten:
- 88 Prozent stellen ihre eigenen Stärken heraus.
- 82 Prozent geben zwischen einer halben und einer Seite Text ab.
- 80 Prozent erläutern, warum sie sich auf die Stelle bewerben.
- Nur 60 Prozent denken daran, das Anschreiben auch zu unterschreiben.
- Weniger als 40 Prozent verdeutlichen die eigene Passung zur Stelle.
- 23 Prozent der Anschreiben weisen mindesten einen Tippfehler auf.
Viel spannender ist allerdings die Frage, ob sich signifikante Zusammenhänge zu grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen finden lassen. Neben den obligatorischen "Big Five" (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit) wird die Leistungsmotivation sowie die Externalität der Bewerber untersucht. Letzteres bezieht sich auf die Frage, inwieweit sich die Studienteilnehmer zutrauen, Dinge selbst zu gestalten und zu verändern (Internalität) oder sich eher als abhängig von anderen Menschen und Umständen sehen (Externalität).
Von den 98 untersuchten Zusammenhängen erweisen sich nur drei als statistisch signifikant:
- Je extravertierter ein Bewerber ist, desto eher neigt er dazu, seine eigenen Stärken im Anschreiben explizit zu benennen (Effektstärke: sieben Prozent).
- Je eher ein Bewerber glaubt, selbst die Dinge in der Hand zu haben, desto eher berichtet er von seiner Bewerbungsmotivation (Effektstärke zehn Prozent) und
- desto eher schmeichelt er dem Arbeitgeber, indem er dessen Vorzüge hervorhebt (Effektstärke: 15 Prozent).
Bewertung formaler Kriterien im Anschreiben: ein Fehler mit Konsequenzen
Die Befunde sprechen dafür, alte Zöpfe abzuschneiden. Wer bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen auf Tippfehler achtet, die Länge des Anschreibens interpretiert oder Kandidaten ablehnt, weil sie ihre Passung zur Stelle nicht erläutern, begeht offenkundig einen Fehler.
Nun könnte man denken, die Fehler bei der Vorauswahl ließen sich leicht im späteren Einstellungsinterview wieder korrigieren. Dies gilt jedoch nur für einen kleinen Teil der Fehler und auch nur dann, wenn das Interview hohen Qualitätsstandards entsprechen würde. Alle Bewerber, die aufgrund nicht valider Kriterien bei der Sichtung der Unterlagen fälschlicherweise zurückgewiesen wurden, können ihre tatsächliche Eignung gar nicht mehr unter Beweis stellen.
Geschenk an die Konkurrenz: voreilig abgelehnte Bewerber
In Zeiten enger werdender Bewerbermärkte dürfte in der allzu voreiligen Ablehnung guter Kandidaten die vielleicht größte Schwäche der Personalauswahl liegen. Diejenigen Arbeitgeber, die inzwischen auf die Sichtung von Anschreiben verzichten, können sich bei der Konkurrenz bedanken, dass hier viele der an sich guten Leute schlichtweg übersehen wurden.
So schließen wir die Kolumne diesmal mit einem ganz dicken Lob für all diejenigen, die dafür sorgen, dass der Konkurrenz die guten Kandidaten nicht ausgehen. Dankeschön!
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, warum Manager scheitern, warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist oder was Sprachanalysen über die Persönlichkeit aussagen können.