Entscheidungsstichwort (Thema)
Mutterschutz bei Totgeburt
Orientierungssatz
- Eine Entbindung im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ist grundsätzlich auch dann anzunehmen, wenn es zu einer Totgeburt kommt. Eine Totgeburt liegt nach § 29 Abs. 2 PStV vor, wenn das Gewicht der Leibesfrucht mindestens 500 Gramm betragen hat.
- Eine medizinisch indizierte vorzeitige Einleitung der Geburt steht der Annahme einer Entbindung im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen nach § 29 Abs. 2 PStV gegeben sind.
Normenkette
MuSchG § 9 Abs. 1; PStG § 21; PStV § 29 Abs. 2; StGB § 218
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 14. Juli 2004 – 5 Sa 241/04 – aufgehoben.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 29. Januar 2004 – 9 Ca 5556/03 – abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Kündigung der Beklagten vom 5. März 2003 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung.
Die Klägerin ist Volljuristin. Sie ist seit dem 15. September 2002 auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 11. Juni 2002 in der Rechtsabteilung der Beklagten beschäftigt. Bei Beginn der Beschäftigung war sie schwanger. Voraussichtlicher Entbindungstermin sollte der 1. Mai 2003 sein. Am 19. Dezember 2002 wurde bei einer Vorsorgeuntersuchung in der 22. Schwangerschaftswoche das sog. “Potter-Syndrom” festgestellt. Dieses führt zur Funktionsunfähigkeit beider Nieren der Leibesfrucht. Auf Grund der fehlenden Nierenfunktion befand sich in der Fruchtblase zu diesem Zeitpunkt kein Fruchtwasser mehr. Der behandelnde Arzt riet der Klägerin zu einer medizinisch indizierten frühzeitigen Geburtseinleitung.
Am 26. Dezember 2002 wurden bei der Klägerin die Wehen medikamentös eingeleitet. Am 28. Dezember 2002 brachte sie ein totes Kind zur Welt. In der Todesbescheinigung vom 28. Dezember 2002 wurde ein natürlicher Tod und ein Gewicht der Leibesfrucht von 600 Gramm bescheinigt und weiter darauf hingewiesen, dass die Leibesfrucht in der Geburt verstorben ist.
Mit einer E-Mail vom 30. Dezember 2002 hatte die Klägerin die Beklagte über ihren Entschluss zum “Schwangerschaftsabbruch und den Tod” des Kindes unterrichtet und ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, am 7. Januar 2003 wieder zur Arbeit fähig zu sein. Tatsächlich war sie bis zum 15. Januar 2003 arbeitsunfähig krank und legte entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Am 16. Januar 2003 erschien sie zur Arbeit, brach sie jedoch im Laufe des Vormittags ab. Seither erbrachte sie keine Arbeitsleistung mehr für die Beklagte.
Nach einem Personalgespräch mit der Klägerin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 5. März 2003 zum 30. April 2003.
Das Standesamt München stellte am 18. März 2003 eine Geburtsurkunde und eine Geburtsbescheinigung zur Mutterschaftshilfe aus. Die Krankenkasse der Klägerin gewährte der Klägerin für die Zeit vom 28. Dezember 2002 bis 3. Mai 2003 ein kalendertägliches Mutterschaftsgeld in Höhe von 13,00 Euro. Die Beklagte zahlte keinen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Sie hat die Auffassung vertreten, ihr stehe der Sonderkündigungsschutz nach § 9 Abs. 1 MuSchG zu. Es liege eine Entbindung iSd. Norm vor. Die Leibesfrucht sei nicht im Mutterleib getötet, sondern nur die Geburt frühzeitig eingeleitet worden. Sie habe ca. 27 Stunden in den Wehen gelegen. Das Kind sei unter den Wehen verstorben. Deshalb liege eine Totgeburt iSv. § 29 Abs. 2 der Ausführungsverordnung zum Personenstandsgesetz (PStV) vor.
Die Klägerin hat beantragt:
festzustellen, dass die Kündigung der Beklagten vom 5. März 2003 unwirksam ist.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags die Auffassung vertreten, es liege ein Schwangerschaftsabbruch vor. Auch bei einer medizinischen Indikation handele es sich nicht um eine Entbindung iSd. MuSchG. Die Leibesfrucht der Klägerin sei im Mutterleib zunächst getötet und erst dann seien die Wehen eingeleitet worden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren ursprünglichen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Die Kündigung vom 5. März 2003 ist nach § 9 Abs. 1 MuSchG unzulässig.
A. Das Landesarbeitsgericht hat seine klageabweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Es liege keine Entbindung iSv. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG vor, wenn eine Schwangerschaft wegen einer medizinischen Indikation abgebrochen und daraufhin dem Zweck eines Schwangerschaftsabbruchs entsprechend ein totes Kind geboren werde. Dies folge aus dem Wortlaut des Tatbestandsmerkmals “Entbindung”. Eine Entbindung sei typischerweise auf die Geburt eines lebenden Kindes gerichtet, ein Schwangerschaftsabbruch ziele hingegen auf die Tötung eines ungeborenen Kindes. Aus § 29 Abs. 2 PStV folge weder aus systematischen noch aus teleologischen Gründen ein anderes Ergebnis. § 3 Abs. 2 Satz 1 EFZG zeige vielmehr, dass bei einem Schwangerschaftsabbruch keine Entbindung iSv. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG angenommen werden könne. Eine Frau, die aus medizinischer Indikation ihre Schwangerschaft abbreche, beziehe Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 1 EFZG und § 24b SGB V. Einer weitergehenden verfassungskonformen Auslegung des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG bedürfe es nicht.
B. Dem folgt der Senat nicht.
I. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ist eine Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die von der Beklagten erklärte Kündigung ist am 5. März 2003 und damit noch innerhalb des viermonatigen Zeitraums seit der Entbindung von 28. Dezember 2002 ausgesprochen worden.
1. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts liegt eine Entbindung iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG vor.
a) Der Begriff der Entbindung knüpft an den medizinischen Begriff an und meint den Vorgang der Geburt im Sinne eines Übergangs des menschlichen Lebewesens von der “Leibesfrucht” zum Menschen (Senat 16. Februar 1973 – 2 AZR 138/72 – BAGE 25, 70). Im medizinischen Sinne wird der Begriff der Entbindung als Geburtseinleitung bzw. synonym für Geburt verwendet (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 260. Aufl.). Geburt meint neben dem “Geborenwerden” den “Vorgang der Ausstoßung des Kindes aus dem Mutterleib unter Wehentätigkeit” (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 260. Aufl.; ähnlich Roche Lexikon Medizin 5. Aufl.). Hiernach soll es entscheidend sein, ob die Frucht bei der Trennung vom Mutterleib sich bereits bis zu einem Stadium entwickelt hat, in dem sie zu selbständigem Leben fähig sei. Das hänge nicht davon ab, ob das Kind lebend oder tot zur Welt komme (Senat 16. Februar 1973 aaO; bestätigt durch Entscheidung vom 30. Mai 1985 – 2 AZR 232/84 –; vgl. auch LAG Hamburg 26. November 2003 – 4 Sa 62/03 – NZA-RR 2005, 72). Dabei soll nach der Rechtsprechung des Senats zur Bestimmung des Begriffs “Entbindung” auch auf die Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes vom 12. August 1957 (BGBl. I, S. 1139) zurückzugreifen sein. Nach der früher herrschenden medizinischen Auffassung wurde insoweit angenommen, ein selbständiges Leben sei erfahrungsgemäß möglich, wenn die Frucht eine Körperlänge von 35 cm habe. Dementsprechend erfülle auch eine Totgeburt den Tatbestand der Entbindung bei Vorliegen dieser Voraussetzungen (Senat 16. Februar 1973 – 2 AZR 138/72 – aaO).
b) Dem ist die Literatur weitgehend gefolgt (KR-Bader 7. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 31; Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1302; ErfK/Schlachter 6. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 2; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 11. Aufl. § 169 Rn. 7c; Kittner/Zwanziger-Bantle Arbeitsrecht 3. Aufl. § 128 Rn. 120 f.; Buchner/Becker MuSchG BErzGG 7. Aufl. § 1 Rn. 134 ff.; Zmarzlik/Zipperer/Viethen Mutterschutzgesetz Mutterschaftsleistungen Bundeserziehungsgeldgesetz 8. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 7; Meisel/Sowka Mutterschutz und Erziehungsurlaub 5. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 2; Gröninger/Thomas MuSchG Stand Juni 2005 § 9 MuSchG Rn. 11 und § 6 MuSchG Rn. 2 ff.; kritisch APS-Rolfs 2. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 23 ff.; im Ergebnis zustimmend Töns Mutterschaftshilfe und Mutterschutz Stand Januar 2002 § 195 RVO Anm. 5; weitergehend KDZ-Zwanziger KSchR 6. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 15, nach dem wegen des Schutzes der Frau auf Grund der seelischen und körperlichen Belastungen nach der Entbindung kein Unterschied zwischen einer Fehl- und Totgeburt zu machen sei; Heilmann MuSchG 2. Aufl. vor § 1 Rn. 10; Schwerdtner JZ 1974, 476, 480; E. Wolf in Anm. zu AP MuSchG 1968 § 9 Nr. 2).
c) Auch das Bundessozialgericht folgt diesen Grundsätzen im Rahmen des Anspruchs auf Mutterschaftsgeld nach § 200 Abs. 3 RVO (15. Mai 1974 – 3 RK 16/73 – BSGE 37, 216).
d) Hiervon ausgehend ist vorliegend eine Entbindung iSv. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG anzunehmen.
Das Kind der Klägerin hatte sich vor dem 28. Dezember 2002 bereits bis zu einem Stadium entwickelt, in dem es zu einem selbständigen Leben grundsätzlich fähig war. Dies ergibt sich schon aus seinem Geburtsgewicht von 600 Gramm.
Nach der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1977 zur Abgrenzung zwischen Tot- und Fehlgeburt (Manual of the International Statistical Classification of Diseases, Injuries, and Causes of Death, WHO Genf 1977) liegt eine Totgeburt vor, wenn das Kind mindestens 500 Gramm wiegt. Die Empfehlung der WHO ist in die Fassung der 13. Verordnung zur Änderung der PStV vom 24. März 1994 (BGBl. I S. 377) eingeflossen und hat die frühere Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes verdrängt. § 29 Abs. 2 PStV sieht nunmehr Kinder als tot geboren oder in der Geburt verstorben (§ 21 Abs. 2 PStG) an, wenn das Gewicht der Leibesfrucht mindestens 500 Gramm betragen hat. Dies gilt selbst dann, wenn sich kein Lebensmerkmal iSd. § 29 Abs. 1 PStV nach der Scheidung vom Mutterleib gezeigt hat. Dementsprechend hat etwa das Oberlandesgericht Dresden zu § 21 Abs. 2 PStG entschieden, zu den in das Personenstandsbuch einzutragenden Totgeburten gehörten selbst Feten aus Schwangerschaftsabbrüchen, wenn sie ein Gewicht von mindestens 500 Gramm aufwiesen (7. Mai 1999 – 15 W 1894/98 – StAZ 1999, 237). Die PStV differenziert also nicht mehr nach der Körperlänge, sondern nach dem Gewicht. Was aber personenstandsrechtlich als Totgeburt anzusehen ist, ist nach den bisherigen und beizubehaltenden Grundsätzen des Senats auch für den Begriff der Entbindung iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG maßgeblich.
2. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Annahme einer Entbindung stehe ein Schwangerschaftsabbruch der Klägerin entgegen. Der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, Ziel der Weheneinleitung sei ein Schwangerschaftsabbruch und die Tötung der Leibesfrucht gewesen, liegen schon keine ausreichenden Feststellungen zu Grunde.
a) Ob jeder Schwangerschaftsabbruch, der zu einer Totgeburt iSd. § 21 Abs. 2 PStG iVm. § 29 Abs. 2 PStV führt, als Entbindung anzusehen ist, oder ob ausnahmsweise keine Entbindung vorliegt, wenn die Leibesfrucht vor der Einleitung der Geburt im Mutterleib getötet wird, kann dahingestellt bleiben.
aa) Nach ganz überwiegender Auffassung in der Literatur stellt allerdings ein Schwangerschaftsabbruch generell keine Entbindung iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG dar (KR-Bader 7. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 32; Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1306; APS-Rolfs 2. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 26; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 11. Aufl. § 169 Rn. 7d; MünchArbR/Heenen 2. Aufl. § 226 Rn. 36; ErfK/Schlachter 6. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 2; Ha-Ko-Fiebig 2. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 8, 22; KDZ-Zwanziger KSchR 6. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 17; Kittner/Zwanziger-Bantle Arbeitsrecht 3. Aufl. § 128 Rn. 122.; Buchner/Becker MuSchG BErzGG 7. Aufl. § 9 Rn. 18 ff.; Zmarzlik/Zipperer/Viethen Mutterschutzgesetz Mutterschaftsleistungen Bundeserziehungsgeldgesetz 8. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 7; Meisel/Sowka Mutterschutz und Erziehungsurlaub 5. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 3b; kritisch Heilmann MuSchG 2. Aufl. vor § 1 Rn. 15; Böttcher/Graue Eltern- und Mutterschutzrecht § 6 Rn. 11). Dabei wird aber nicht ausreichend berücksichtigt, dass nicht jeder Abbruch der Schwangerschaft zielgerichtet auf eine Tötung der Leibesfrucht gerichtet sein muss und ist. Unter einem Schwangerschaftsabbruch wird sowohl “der gynäkologisch-fachärztliche Eingriff zum Abbruch einer intakten Schwangerschaft verstanden” (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 9. Aufl. “Schwangerschaftsabbrechung”) als auch die “künstliche Herbeiführung einer Fehlgeburt durch gynäkologische Maßnahmen; umgangssprachlich auch als Abtreibung bezeichnet, womit im engeren Sinn der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch gemeint ist” (Brockhaus Enzyklopädie 20. Aufl.). Medizinisch wird der Schwangerschaftsabbruch auch als “absichtlich herbeigeführte Beendigung einer Schwangerschaft vor Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit von Embryo oder Fetus” beschrieben (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 260. Aufl.) bzw. als “die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft” (Roche Medizin Lexikon 5. Aufl.). Die Hinweise belegen deutlich, dass je nach zeitlichem Stadium ein Schwangerschaftsabbruch nur zum Teil – abhängig von der Lebensfähigkeit der Leibesfrucht – auf eine Tötung der Leibesfrucht ausgerichtet ist.
bb) Deshalb ist es unzutreffend, jeden Abbruch einer Schwangerschaft mit einer Abtreibung iSd. Tötung der Leibesfrucht – insbesondere iSd. § 218 StGB (s. hierzu Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 218 Rn. 5; SK-StGB/Rudolphi Stand September 2004 § 218 Rn. 10) – gleichzusetzen (so wohl aber APS-Rolfs 2. Aufl. § 9 MuSchG Rn. 2; Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1306; Kittner/Zwanziger-Bantle Arbeitsrecht 3. Aufl. § 128 Rn. 122; Buchner/Becker MuSchG BErzGG 7. Aufl. § 1 MuSchG Rn. 141; Zmarzlik/Zip-perer/Viethen Mutterschutzgesetz Mutterschaftsleistungen Bundeserziehungsgeldgesetz 8. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 13). Vielmehr kann ein Schwangerschaftsabbruch die bloße Beendigung der Schwangerschaft zu einem früheren als dem voraussichtlichen Entbindungstermin zum Ziel haben, ohne das Leben der Leibesfrucht beeinträchtigen zu wollen (zB bei Lebensgefahr der Mutter) bzw. um sie sogar zu retten (Meisel/Sowka Mutterschutz und Erziehungsurlaub 5. Aufl. § 6 MuSchG Rn. 3 unterscheiden insoweit sprachlich korrekter zwischen einem Schwangerschaftsabbruch und einer künstlich eingeleiteten Entbindung). Auch im Rahmen der Strafbarkeit nach § 218 StGB wird die bloße Beschleunigung oder Einleitung einer Geburt eines vermeintlich an sich lebensfähigen Kindes durch wehenfördernde Mittel nicht als tatbestandsmäßig angesehen (Lackner/Kühl StGB 24. Aufl. § 218 Rn. 5; S/S-Eser StGB 25. Aufl. § 218 Rn. 19). Dementsprechend kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, jeder Abbruch der Schwangerschaft sei auf die Tötung der Leibesfrucht gerichtet und könne deshalb einer Entbindung als eines auf Lebensfähigkeit gerichteten Vorgangs schlicht gegenübergestellt werden.
cc) Ein “Schwangerschaftsabbruch” schließt demnach nicht in jedem Falle die Annahme einer Entbindung iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG aus. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Schwangerschaft früher als zum mutmaßlichen Entbindungstermin künstlich beendet worden ist, ohne die Lebensfähigkeit der Leibesfrucht zielgerichtet beeinträchtigen zu wollen. Allein aus dem Umstand des “Abbruchs”, dh. der frühzeitigen Beendigung der Schwangerschaft lässt sich das Tatbestandsmerkmal der Entbindung iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG noch nicht negieren, wenn die Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 PStV vorliegen.
dd) Das Landesarbeitsgericht hat vorliegend festgestellt, bei der Klägerin seien am 26. Dezember 2002 die Wehen medikamentös eingeleitet worden. Gegen diese Feststellung hat sich die Beklagte nicht gewandt. Wenn das Landesarbeitsgericht weiter ausführt, der Schwangerschaftsabbruch habe auf die Tötung des ungeborenen Kindes gezielt, so handelt es sich nur um allgemeine Ausführungen ohne Bezug zum konkreten Sachverhalt. Das Landesarbeitsgericht hat gerade nicht festgestellt, dass vor oder mit der Einleitung der Geburt zugleich tatsächlich die Tötung der Leibesfrucht erfolgte bzw. erfolgen sollte.
ee) Auch aus dem von der Beklagten vorgelegten Formular “Dokumentierte Patientenaufklärung Gyn10a D” ergibt sich kein anderes Ergebnis. Dort wird erläutert, bei einem Abbruch einer Schwangerschaft in einem weit fortgeschrittenen Stadium würden wehenanregende Hormone verwendet. Dadurch würde es zu regelmäßigen Wehen und zur Ausstoßung der Leibesfrucht kommen. Von einer – vorangehenden – Tötung der Leibesfrucht im Mutterleib ist dort aber nicht die Rede.
ff) Das Landesarbeitsgericht hat – wovon auch die Beklagte ausgeht – weiter festgestellt, auf Grund des sog. “Potter-Syndroms” sei das Kind der Klägerin höchstwahrscheinlich noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt gestorben. Eine vorausgehende Tötung des Kindes vor Einleitung der Geburt lässt sich hieraus aber gerade nicht belegen oder ableiten. Vielmehr hat die Klägerin mehrfach dargelegt, die Geburt sei nur frühzeitig eingeleitet worden. Da eine Tötung der Leibesfrucht im Mutterleib gerade nicht erfolgt und das Kind potentiell lebensfähig gewesen sei, habe es lebend geboren werden können und hätte ggf. intensiv-medizinisch versorgt werden müssen. Diese Auffassung wird nicht nur durch das Formular “Dokumentierte Patientenaufklärung Gyn10a D”, sondern auch durch die Todesbescheinigung gestützt. Danach ist die Leibesfrucht “in der Geburt verstorben” und nicht “als tote Leibesfrucht geboren”. Gegen diese ärztlichen Feststellungen hat sich die Beklagte nicht gewandt.
gg) Dahinstehen kann bei dieser Sachlage, ob bereits die Ausstellung einer Geburtsurkunde als unumstößlicher Beweis einer Entbindung anzusehen ist (vgl. Töns Mutterschaftshilfe und Mutterschutz Stand Januar 2002 § 195 RVO Anm. 5), so dass die Beklagte schon deshalb das Vorliegen einer Entbindung hinnehmen muss, wie es auch die Krankenkasse der Klägerin getan hat.
b) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist dieses Ergebnis auch nicht widersprüchlich.
aa) Bei der Klägerin war die Schwangerschaft so weit fortgeschritten, dass sie zu einer Totgeburt iSd. § 21 Abs. 2 PStG iVm. § 29 Abs. 2 PStV geführt hat. In diesem Fall ist die körperliche Umstellung einer Frau schon so groß und ihre psychische Einstellung auf das erwartete Kind so ausgeprägt, dass es auch gerechtfertigt erscheint, auf ihre physische und psychische Lage Rücksicht zu nehmen und sie vor schädlichen Beunruhigungen und Belastungen zu schützen. Hierzu gehören sowohl der Erhalt ihres Arbeitsplatzes als wirtschaftliche Existenzgrundlage trotz Leistungsminderung oder Arbeitsunfähigkeit (vgl. BAG Großer Senat Beschluss 26. April 1956 – GS 1/56 – BAGE 3, 66, 70; Senat 31. März 1993 – 2 AZR 595/92 – AP MuSchG 1968 § 9 Nr. 20 = EzA MuSchG § 9 nF Nr. 32; 16. Februar 1973 – 2 AZR 138/72 – BAGE 25, 70) als auch der Schutz vor den psychischen Belastungen eines Kündigungsschutzprozesses. Dieses Verständnis entspricht auch dem Anliegen des mutterschutzrechtlichen Kündigungsschutzes, nämlich einer (werdenden) Mutter trotz ihrer etwa mutterschaftsbedingten Leistungsminderung oder Arbeitsunfähigkeit den Arbeitsplatz als wirtschaftliche Existenzgrundlage zu erhalten (vgl. BAG Großer Senat Beschluss 26. April 1956 – GS 1/56 – BAGE 3, 66, 70; Senat 31. März 1993 – 2 AZR 595/92 – aaO; 16. Februar 1973 – 2 AZR 138/72 – aaO).
bb) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ergibt sich auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen ein anderes Ergebnis. Insbesondere die Regelungen des § 3 Abs. 2 EFZG und des § 24b SGB V stehen dem nicht entgegen.
Das Entgeltfortzahlungs- und das Mutterschutzrecht ergänzen sich: Liegt eine Entbindung vor, steht der Mutter ein Anspruch auf Mutterschaftsgeld und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nach § 6 Abs. 1 Satz 1, §§ 13, 14 MuSchG zu. Liegt keine Entbindung vor und ist die Frau arbeitsunfähig, hat sie einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. § 3 Abs. 2 EFZG stellt klar, wann ein Schwangerschaftsabbruch unverschuldet iSd. § 3 Abs. 1 EFZG ist. Eine Frau mit einer Fehlgeburt erhält deshalb Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bei Bestehen von Arbeitsunfähigkeit. Eine Frau mit einer Totgeburt hat einen Anspruch auf Mutterschaftsgeld und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld, auch wenn während der entsprechenden Mutterschutzfristen tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat (Geyer/Knorr/Krasney Entgeltfortzahlung Krankengeld Mutterschaftsgeld Stand September 2005 § 3 EFZG Rn. 56). Ein Vorrang der Entgeltfortzahlung ist zu verneinen, weil insoweit die Arbeitsunfähigkeit als alleinige Ursache der fehlenden Erbringung der Arbeitsleistung von Gesetzes wegen vorausgesetzt wird (BAG 19. Januar 2000 – 5 AZR 637/98 – BAGE 93, 212; 26. Juni 1996 – 5 AZR 872/94 – BAGE 83, 229; Schmitt EFZG 5. Aufl. § 3 Rn. 78, 80; Geyer/Knorr/Krasney Entgeltfortzahlung Krankengeld Mutterschaftsgeld Stand September 2005 § 3 EFZG Rn. 37).
§ 3 Abs. 2 EFZG wird dadurch nicht eines Anwendungsbereichs beraubt. Läge eine Fehlgeburt im Sinne der Rechtsprechung des Senats vor, bestünde kein Beschäftigungsverbot iSd. § 6 Abs. 1 MuSchG. Die Klägerin hätte weder einen Anspruch auf Mutterschaftsgeld gegenüber ihrer Krankenkasse noch einen Anspruch auf den Zuschuss zum Mutterschaftsgeld gegenüber der Beklagten. Da sie – zumindest teilweise – arbeitsunfähig krank gewesen wäre, hätte sie deswegen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gehabt, da der Schwangerschaftsabbruch nach § 3 Abs. 2 Satz 1 EFZG nicht rechtswidrig war (BAG 5. April 1989 – 5 AZR 495/87 – BAGE 61, 249; nachfolgend BVerfG 18. Oktober 1989 – 1 BvR 1013/89 – AP LohnFG § 1 Nr. 84a).
Gleiches gilt auch für § 24a SGB V. Dort wird ein Anspruch gegenüber der Krankenkasse auf Leistungen durch einen Arzt ua. bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft festgelegt. § 24a Abs. 3 und 4 SGB V nehmen bestimmte Leistungen des Arztes bei einem Schwangerschaftsabbruch iSd. § 218a Abs. 1 StGB (der sog. “Fristenlösung”) aus. § 24b SGB V ergänzt die sozialrechtlichen Regelungen bei den strafrechtlich geregelten Schwangerschaftsabbrüchen iSv. § 218 StGB (Hauck/Haines SGB V Stand Oktober 2005 § 24b Rn. 1). Die Vorgängerregelung des § 1 Abs. 2 LFZG wurde in Folge der Änderung des § 200f RVO, der Vorgängerregelung zu § 24b SGB V, in das LFZG eingefügt (Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 28. Februar 1974, BT-Drucks. 7/1753 S. 4). § 1 Abs. 2 LFZG wurde in der Folgezeit in § 3 Abs. 2 EFZG inhaltlich unverändert übernommen (vgl. Entwurf eines Entgeltfortzahlungsgesetzes BT-Drucks. 12/5263 S. 3 und 12). Infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (– 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92 – BVerfGE 88, 203) wurde auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 29. September 1993 (BT-Drucks. 12/5798 S. 7 und 26) Satz 2 eingefügt. Die gesetzlichen Änderungen im Bereich der Versicherungsleistungen der Krankenkassen, §§ 200f RVO, 24b SGB V blieben ebenso wie diejenigen im Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in § 1 Abs. 2 LFZG, § 3 Abs. 2 EFZG ohne jeden Einfluss auf das Kündigungsverbot in § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG.
cc) Schließlich ergibt sich kein anderes Ergebnis auf Grund der E-Mail – Mitteilung der Klägerin – vom 30. Dezember 2002.
Soweit die Klägerin dort umgangssprachlich einen “Schwangerschaftsabbruch” und den “Tod des Kindes” erwähnt hatte, lässt sich daraus nicht schließen, es liege eine Fehlgeburt oder eine Tötung der Leibesfrucht bereits im Mutterleib vor.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Thelen, Bartel
Fundstellen
Haufe-Index 1521100 |
DB 2006, 1435 |