Entscheidungsstichwort (Thema)
Anzeigepflicht bei einer Massenentlassung. Kündigung bei nicht rechtzeitiger Anzeige einer Massenentlassung
Leitsatz (amtlich)
- Entlassung iSd. § 17 Abs. 1 KSchG meint bei einer der Richtlinie RL 98/59/EG vom 20. Juli 1998 entsprechenden richtlinienkonformen Auslegung der kündigungsschutzrechtlichen Bestimmung den Ausspruch der Kündigung.
- Eine nach Ausspruch der Kündigung erstattete Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit führt jedenfalls dann nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn sich der Arbeitgeber berechtigterweise auf den auch bei einer Änderung der Rechtsprechung zu beachtenden Vertrauensschutz berufen kann.
Orientierungssatz
- Der Zweite Senat folgt der Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache “Junk” (Urteil vom 27. Januar 2005 – C-188/03 –). Unter dem Begriff “Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist der Ausspruch der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu verstehen.
- § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG lässt eine richtlinienkonforme Auslegung zu.
- Der Zweite Senat gibt insoweit seine bisher vertretene Ansicht zur Auslegung des Begriffs der “Entlassung” in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG auf.
- Ob eine verspätete Massenentlassungsanzeige generell zur Unwirksamkeit einer Kündigung führt, lässt der Zweite Senat im Entscheidungsfall offen.
- Der Grundsatz des auch bei einer Änderung der Rechtsprechung zu beachtenden Vertrauensschutzes verbietet es im Entscheidungsfall, die Kündigung wegen der nicht rechtzeitigen Massenentlassungsanzeige als unwirksam zu qualifizieren.
- Ein kündigender Arbeitgeber konnte im Jahr 2004 sich darauf verlassen, dass ein zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung von ihm nicht gefordertes Verhalten (hier: Anzeige einer Massenentlassung) nicht nachträglich als rechtswidrig oder nicht ausreichend qualifiziert wird. Eine Rechtsprechungsänderung darf regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie – damals und nachträglich – nicht mehr erfüllen kann.
- Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 entfallen sein.
- Im Entscheidungsfall bestand keine Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof, da der Zweite Senat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst und kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt hat.
Normenkette
KSchG §§ 17-18
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 20. April 2005 – 6 Sa 2279/04 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der am 9. Oktober 1973 geborene Kläger war seit dem 14. Juni 1994 als Arbeiter bei der Schuldnerin, der R… GmbH, tätig. Die Schuldnerin beschäftigte zuletzt 23 Arbeitnehmer. In ihrem Betrieb gab es keinen Betriebsrat.
Mit Schreiben vom 30. Juli 2004 kündigte die Schuldnerin mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. August 2004. Alle Arbeitnehmer der Schuldnerin erhielten am selben Tage eine Kündigung. Die Schuldnerin zeigte die Entlassung der 23 Arbeitnehmer mit dem am 2. August 2004 bei der Agentur für Arbeit eingegangenen Schreiben vom 30. Juli 2004 an. Mit Schreiben vom 9. August 2004 teilte die Agentur für Arbeit mit, dass
“die angezeigten Entlassungen von drei Arbeitnehmern zum 30. September 2004 … nicht anzeigepflichtig sind, da die Bestimmungsgrößen gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 KSchG nicht erfüllt sind. Dem Antrag auf Zustimmung zur Entlassung von acht Arbeitnehmern zum 31. August 2004 vor Ablauf der Sperrfrist (2. September 2004) wird unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte iSd. § 20 Abs. 4 KSchG nicht stattgegeben”
Der Betrieb der Schuldnerin wurde zum 31. Juli 2004 stillgelegt. Am 1. August 2004 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
Mit Schreiben vom 2. August 2004 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers erneut vorsorglich zum 31. August 2004. Alle anderen Arbeitnehmer der Schuldnerin erhielten am selben Tag ebenfalls eine erneute Kündigung. Mit Schreiben vom 25. August 2004 zeigte der Beklagte erneut die Entlassungen der Agentur für Arbeit an. Mit Bescheid vom 10. September 2004 teilte die Agentur für Arbeit dem Beklagten mit, dass die angezeigten Entlassungen von elf Arbeitnehmern zum 30. September 2004 innerhalb der Freifrist rechtswirksam werden.
Der Kläger hat sich mit seiner Klage gegen beide Kündigungen gewandt. Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2004 hat er insbesondere geltend gemacht, die erforderlichen Anzeigen zur Massenentlassung hätten vor Ausspruch der Kündigungen bei der Agentur für Arbeit erfolgen müssen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass sein Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung vom 30. Juli 2004 noch durch die Kündigung vom 2. August 2004 zum 31. August 2004 beendet worden ist.
Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags vorgetragen: Die Kündigung sei auf Grund der Betriebsstilllegung aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Sie verstoße auch nicht gegen die §§ 17 ff. KSchG. Die Massenentlassungsanzeige sei rechtzeitig vor der Beendigung der Arbeitsverhältnisse erstattet worden. Es entspreche der bisherigen Rechtsprechung und der Praxis der Agentur für Arbeit, die Anzeige nicht schon vor dem Ausspruch der Kündigung, sondern erst vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erstatten. Dementsprechend habe es für eine zum 30. September 2004 wirkende Kündigung überhaupt keiner Anzeige bedurft. Zu diesem maßgeblichen Kündigungszeitpunkt seien einschließlich des Klägers nur vier Arbeitnehmer entlassen worden. Dies habe die Agentur für Arbeit bestätigt.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei auf Grund der Kündigung vom 30. Juli 2004 erst zum 30. September 2004 beendet worden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigungen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
A. Das Landesarbeitsgericht hat seine die Klage abweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Zu Recht habe das Arbeitsgericht entschieden, die Kündigung der Schuldnerin vom 30. Juli 2004 habe gemäß § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 iVm. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB das Arbeitsverhältnis der Parteien erst zum 30. September 2004 beendet. Das Arbeitsgericht habe weiter zutreffend erkannt, dass die Kündigung weder nach § 1 Abs. 2 KSchG noch nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG unwirksam sei. Es liege ein betriebsbedingter Grund vor und die Grundsätze der Sozialauswahl seien beachtet worden. Die Kündigung und Entlassung des Klägers zum 30. September 2004 sei auch nicht wegen einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG unwirksam. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts müsse die Massenentlassungsanzeige erst zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der Agentur für Arbeit vorliegen. Die Agentur für Arbeit habe dem Beklagten mit Bescheid vom 9. August 2004 mitgeteilt, die Entlassungen der Arbeitnehmer zum 30. September 2004 seien wegen des Nichterreichens der Quote nicht anzeigepflichtig. Es könne zudem dahingestellt bleiben, ob in Anwendung der Richtlinie des Rates 98/59/EG und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG es nunmehr auf den Ausspruch der Kündigung als entscheidendes Moment für die Anwendung des § 17 KSchG ankomme. Auf Grund des zu gewährenden Vertrauensschutzes könne im Streitfall hieran nicht angeknüpft werden. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung am 30. Juli 2004 hätten keine Anhaltspunkte vorgelegen, dass sich die herrschende Auffassung zur Auslegung der §§ 17 ff. KSchG ändern könne. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Grundsatz des Vertrauensschutzes gebiete es, die richtlinienkonforme Auslegung dieser Norm auf Sachverhalte vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 auszuschließen.
B. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.
Die Kündigung vom 30. Juli 2004 ist insbesondere nicht wegen Verstoßes der Schuldnerin gegen die Pflichten aus § 17 KSchG rechtsunwirksam. Sie hat vielmehr das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. September 2004 wirksam beendet. Zwar hat die Schuldnerin die die Entlassung des Klägers betreffende Anzeige nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG erst nach dem Zugang der Kündigungserklärung – und damit verspätet – erstattet. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verbietet es aber, diese Kündigung deshalb als unwirksam zu qualifizieren.
I. Die Kündigung vom 30. Juli 2004 ist auf Grund der Betriebsstilllegung zum 31. Juli 2004 iSv. § 1 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Da allen Arbeitnehmern des Betriebs gekündigt worden ist, musste die Schuldnerin keine Sozialauswahl durchführen. Dies hat das Landesarbeitsgericht unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Arbeitsgerichts für das Revisionsgericht bindend festgestellt. Der Kläger hat hiergegen keine Revisionsrügen erhoben.
II. Entgegen der Auffassung der Revision ist die am 30. Juli 2004 erklärte Kündigung zum 31. August 2004, die auf Grund der rechtskräftigen Feststellungen des Arbeitsgerichts erst zum 30. September 2004 wirkt, nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.
1. Dem Kläger ist die Geltendmachung der Unwirksamkeit der Kündigung wegen eines Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG noch nicht deshalb verwehrt, weil er sich erst nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2004 auf die fehlende bzw. verspätete Massenentlassungsanzeige berufen hat. Es kann dahinstehen, ob die Nichtbeachtung von § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG einen Unwirksamkeitsgrund iSv. § 4 KSchG darstellt oder lediglich ein dauerhaftes Umsetzungsdefizit vorliegt, das nicht von der Fristenregelung erfasst würde. Jedenfalls konnte der Kläger sich nach § 6 KSchG noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf andere, nicht innerhalb der Klagefrist geltend gemachte Gründe berufen (vgl. auch BAG 16. Juni 2005 – 6 AZR 451/04 – = EzA KSchG § 17 Nr. 15).
2. Die Schuldnerin war nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verpflichtet, vor Ausspruch der Kündigung am 30. Juli 2004 die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen, da diese Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung nach den gesetzlichen Bestimmungen war. Die Schuldnerin hat am 30. Juli 2004 sämtlichen 23 Arbeitnehmern des Betriebs gekündigt und sie damit iSd. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG entlassen. Der gesetzliche Schwellenwert war an diesem Tag erfüllt.
a) Unter dem Begriff “Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen.
aa) Der Senat hat allerdings bisher in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt beispw. 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9; 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318; 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20 = EzA KSchG § 17 Nr. 14) unter Entlassung iSd. §§ 17, 18 KSchG nicht die Kündigungserklärung, sondern erst die damit beabsichtigte tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden. Begründet wurde diese Auslegung vor allem mit dem Wortlaut, der Gesetzessystematik und dem arbeitsmarktpolitischen Zweck (vgl. Senat 24. Oktober 1996 – 2 AZR 895/95 – BAGE 84, 267; 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – aaO). Dadurch konnte in der Praxis der Arbeitgeber eine Kündigung, jedenfalls wenn eine längere Kündigungsfrist anzuwenden war, vor der Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit erklären. Der Arbeitgeber, der eine Massenentlassung beabsichtigte, erstattete deshalb die Anzeige bei der Agentur für Arbeit grundsätzlich erst nach dem Ausspruch der Kündigungserklärungen und zwar in der Regel ca. ein bis zwei Monate vor dem beabsichtigten Beendigungstermin. Dieser Ablauf gewährleistete, dass die einmonatige Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG – bzw. eine mögliche Verlängerung nach § 18 Abs. 2 KSchG – noch während des Laufs der Kündigungsfrist realisiert werden konnte. Hinzu kam, dass im Fall einer Anzeige vor dem Zugang der Kündigung, Kündigungen mit einer langen Kündigungsfrist – zB von vier oder mehr Monaten – mit der Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG harmonisiert werden konnten.
Der Senat hat es bisher abgelehnt, die Entlassung mit dem Zugang der Kündigungserklärung gleichzusetzen und bei einer verspäteten Abgabe der Anzeige eine Unwirksamkeit der Kündigung anzunehmen. Er hat im Hinblick auf die Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften in Mitgliedstaaten – ABl. EG Nr. L 225, S. 16, im Folgenden: MERL) angenommen, die nationalen Normen der §§ 17 ff. KSchG ließen eine richtlinienkonforme Auslegung nicht zu (vgl. insb. Senat 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318). §§ 17 ff. KSchG regelten nur eine Verlängerung der Kündigungsfrist der sonst privatrechtlich wirksamen Kündigung durch einen privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt. Dementsprechend sah der Senat es als möglich an, dass der Arbeitgeber auch noch nach der Kündigungserklärung die Massenentlassungsanzeige bis zum Entlassungszeitpunkt wirksam nachholen konnte (vgl. Senat 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – und 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9 BAGE 107, 318). Nur in den Fällen, in denen die Massenentlassungsanzeige überhaupt nicht oder erst nach der Entlassung erstattet worden war, konnte der Arbeitgeber eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht wirksam herbeiführen (Senat 24. Oktober 1996 – 2 AZR 895/95 – BAGE 84, 267; 11. März 1999 – 2 AZR 461/98 – BAGE 91, 107; 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – aaO; APS-Moll 2. Aufl. § 17 KSchG Rn. 42 ff. mwN). Nach Ansicht des Senats ergab sich diese Rechtsfolge aus § 18 Abs. 1 Halbsatz 1 KSchG, nach dem die anzuzeigende Entlassung erst einen Monat nach Eingang der Anzeige wirksam werden könne (Senat 24. Oktober 1996 und 13. April 2000 aaO). Das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige habe deshalb zur Folge, dass die Entlassung keine Wirkung erlangen könne (Senat 24. Oktober 1996 und 13. April 2000 aaO). Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses werde vielmehr dauerhaft und unbegrenzt gehemmt (s. auch KR-Weigand 7. Aufl. § 18 KSchG Rn. 51; APS-Moll 2. Aufl. § 18 KSchG Rn. 44). Eine solche gesetzlich angeordnete Entlassungssperre genüge auch als verhältnismäßige und abschreckende Sanktion im Sinne der MERL bei Verletzung der Anzeigepflicht. Im Ergebnis konnte der Arbeitgeber den Arbeitnehmer trotz privatrechtlich wirksamer Kündigung nicht entlassen. Er war vielmehr verpflichtet, während der Dauer der Entlassungssperre, den Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen und dessen Lohn weiterzuzahlen. Bis zum Tag der möglichen Entlassung waren die tatsächlichen Rechtsfolgen für den Arbeitgeber keine anderen als im Falle der Unwirksamkeit der Kündigung (vgl. Senat 18. September 2003 aaO). Der Arbeitgeber konnte allerdings, anders als im Fall der Unwirksamkeit der Willenserklärung “nachbessern” und die nicht erstattete Anzeige oder die unterlassene Beratung mit dem Betriebsrat noch nachholen.
bb) Der Europäische Gerichtshof hat im Januar 2005 in der Rechtssache “Junk” (Urteil vom 27. Januar 2005 – C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) entschieden, die RL 98/59/EG sei dahingehend auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis sei, das als Entlassung gelte und der Arbeitgeber Massenentlassungen erst nach Ende des Konsultationsverfahrens und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung vornehmen dürfe. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ergebe sich – schon auf Grund der Mehrsprachigkeit des Europarechts – auch aus der grammatikalischen Auslegung des Begriffs “Entlassung” kein anderes Ergebnis. Es komme ganz wesentlich auf den systematischen Zusammenhang und den Sinn und Zweck der Vorschriften, insbesondere des Art. 3 Abs. 1 MERL, an. Aus dem Tatbestandsmerkmal der “beabsichtigten” Massenentlassungen folge, dass die Entscheidung des Arbeitgebers noch nicht gefallen sein dürfe. Werde dem Arbeitnehmer eine “Kündigung” schon mitgeteilt, müsse bereits eine Entscheidung des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis zu beenden, vorliegen. Die tatsächliche Beendigung mit Ablauf der Kündigungsfrist stelle nur eine (Aus-)Wirkung der Entscheidung dar (EuGH aaO Rn. 36). Das Tatbestandsmerkmal sei ein Indiz dafür, dass die Konsultations- und Anzeigepflichten vor der Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen entstünden (EuGH aaO Rn. 37). Dieses Auslegungsergebnis entspreche auch dem Ziel der Massenentlassungsrichtlinie. Aus Art. 3 Abs. 2 MERL folge, dass Kündigungen zu vermeiden oder zahlenmäßig zu beschränken seien (EuGH aaO Rn. 38). Dieses Ziel lasse sich nicht erreichen, wenn die Konsultation mit der Arbeitnehmervertretung erst nach der Entscheidung des Arbeitgebers stattfinde. Deshalb dürfe die Kündigung des Arbeitsvertrages erst nach dem Ende des Konsultationsverfahrens ausgesprochen werden, dh., nachdem der Arbeitgeber seine Verpflichtungen aus Art. 2 MERL erfüllt habe (EuGH aaO Rn. 44 u. 45). Anders als die Konsultationspflichten diene das Anzeigeverfahren bei der Arbeitsverwaltung nach Art. 4 Abs. 2 MERL dem Zweck, der zuständigen (Arbeits-)Behörde es zu ermöglichen, nach Lösungen für die durch die beabsichtigte Massenentlassung aufgeworfenen Probleme zu suchen (EuGH aaO Rn. 47). Gleichwohl müsse auch die Anzeige bei der Arbeitsverwaltung vor dem Ausspruch der Kündigung erfolgt sein(EuGH aaO Rn. 53). Art. 3 Abs. 1 MERL verlange eine Anzeige vor der beabsichtigten Massenentlassung. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 MERL setze den Fall einer “ausgesprochenen Kündigung” voraus (EuGH aaO Rn. 52). Allerdings könne die Kündigung schon nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde, und damit vor Ablauf der in der MERL genannten Fristen, erfolgen (EuGH aaO Rn. 53).
cc) Der Senat folgt dieser Auslegung der MERL durch den Europäischen Gerichtshof. Insbesondere § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG lässt auch eine richtlinienkonforme Auslegung im Sinne dieser Rechtsprechung zu. Insoweit gibt der Senat unter Berücksichtigung der in der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache “Pfeiffer” (Entscheidung vom 5. Oktober 2004 – C-397/01 – EuGHE I 2004, 8835) präzisierten Grundsätze zum Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung seine im Urteil vom 18. September 2003 (aaO) vertretene gegenteilige Auffassung auf. Entlassung iSd. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist auf Grund der richtlinienkonformen Auslegung der Norm nunmehr als Ausspruch der Kündigung zu verstehen.
(1) Zwar findet die Massenentlassungsrichtlinie – wie alle Richtlinien – im Verhältnis von Privatrechtssubjekten keine unmittelbare Anwendung (vgl. Rörig Drittwirkung von Richtlinien in Privatrechtsverhältnissen; Ruffert in: Callies/Ruffert Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag 2. Aufl. Art. 249 Rn. 80 ff.; Riesenhuber/Domröse EWS 2005, 97, 100; Thüsing ZIP 2004, 2301). In einem Rechtsstreit unter Privaten ist es deshalb den Parteien eines Prozesses nicht möglich, sich unmittelbar auf eine Richtlinie zu berufen (vgl. EuGH 14. Juli 1994 – C-91/92 – EuGHE I 1994, 2325; 7. März 1996 – C-192/94 – EuGHE I 1996, 1281). Die Richtlinien wenden sich an die Mitgliedstaaten und müssen von ihnen umgesetzt werden (Art. 249 EG, Art. 11 MERL). Zur Umsetzung der Richtlinie ist der nationale Gesetzgeber verpflichtet. Allerdings trifft die Umsetzungsverpflichtung alle staatliche Gewalt und deshalb auch die Rechtsprechung (EuGH 10. April 1984 – Rs C-14/83 – EuGHE 1984, 1891 Rn. 26, 28 (von Colsen und Kamann); 13. November 1990 – Rs C-106/89 – EuGHE 1990, 1599 Rn. 8; 14. Juli 1994 – C-91/92 – [Marleasing] EuGHE I 1994, 3325 Rn. 26; Canaris FS Bydlinski S. 97, 55). Die Rechtsprechung ist verpflichtet, das nationale Recht so auszulegen und fortzubilden, dass es den Vorgaben der Richtlinie entspricht (EuGH 5. Mai 1994 – C-421/92 – [Habermann/Beltermann] EuGHE I 1994, 1657; BAG 18. Februar 2003 – 1 ABR 2/02 – BAGE 105, 37; Riesenhuber/Domröse RiW 2005, 47 ff.; dies. EWS 2005, 97, 101). Das europäische Recht verlangt vom innerstaatlichen Gericht, das nationale Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen (EuGH 27. Juni 2000 – C-240/98 – EuGHE I 2000, 4941 Rn. 30; 10. April 1984 – Rs C-14/83 – EuGHE 1984, 1891 Rn. 26).
Die Anforderungen an eine richtlinienkonforme Auslegung hat der Europäische Gerichtshof zuletzt in seiner Entscheidung “Pfeiffer” präzisiert (Entscheidung vom 5. Oktober 2004 – C-397/01 – [Pfeiffer] EuGHE I 2004, 8835). Er hat sich für die Fälle, in denen sich das nationale Gericht in einem Rechtsstreit mit der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften befassen muss, die speziell zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden sind und dem Einzelnen Rechte verliehen haben, zu einer umfassenden richtlinienkonformen Auslegung bekannt (EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 – aaO Rn. 112). Die nationalen Gerichte hätten in Anbetracht des Art. 249 Abs. 3 EG regelmäßig davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber eines Mitgliedstaates, wenn er von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht habe, die Absicht gehabt habe, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfange nachkommen zu wollen. Folglich sei ein nationaler Richter, der einer Richtlinienbestimmung volle Wirkung verleihen wolle, immer im Einklang mit dem, was der betreffende Mitgliedstaat in Erfüllung seiner gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung eigentlich gewollt habe (vgl. auch Winter Jahrbuch des Arbeitsrechts 2005 1, 5). Die nationalen Gerichte seien deshalb verpflichtet, die nationalen Bestimmungen so weit wie möglich auszulegen, damit sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden könnten. Sie müssten alles unternehmen, um die volle Wirksamkeit einer Richtlinie zu gewährleisten (EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 – aaO Rn. 117 f.). Das gesamte nationale Recht sei an Hand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar sei (EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 – Rn. 119).
Eine richtlinienkonforme Auslegung setzt somit voraus, dass die nationale Regelung einen Auslegungsspielraum hat (Jakobs/Naber SAE 2006, 61, 64; Canaris FS Bydlinski S. 47, 57 ff.; Kliemt FS 25 Jahre ARGE Arbeitsrecht 1237, 1242). Sie ist demnach dann ausgeschlossen, wenn sie dem nationalen Recht und dem klar erkennbaren Willen des nationalen Gesetzgebers widerspricht (BAG 30. März 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47; siehe auch Thüsing ZIP 2004, 2301, 2305; Franzen JZ 2003, 321, 324, 327; Kerwer NZA 2002, 1316, 1321; Jakobs/Naber SAE 2006, 61, 63). Sie darf den erkennbaren Willen des nationalen Gesetzgebers nicht verändern (BVerfG 24. Mai 1995 – 1 BvF 1/92 – BVerfGE 93, 37, 81; 11. April 2000 – 1 BvL 2/00 – AP ArbGG 1979 § 26 Nr. 2; BAG 6. November 2002 – 5 AZR 617/01 (A) – BAGE 103, 240; 5. März 1996 – 1 AZR 590/92 – BAGE 82, 211; 20. Juli 2004 – 9 AZR 343/03 – BAGE 111, 247). Verweigert der nationale Gesetzgeber eine Umsetzung der Richtlinie überhaupt oder weicht er bewusst von bestimmten Vorgaben einer Richtlinie ab, ist das nationale Gericht grundsätzlich verpflichtet, die nationale – wenn auch richtlinienwidrige – Regelung anzuwenden (vgl. Riesenhuber/Domröse RiW 2005, 47, 52). Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung darf nicht zu einer Auslegung contra legem führen (EuGH 16. Januar 2005 – C-105/03 – [Maria Pupino] NJW 2005, 2839, 2841; siehe auch: BAG 18. Februar 2003 – 1 ABR 2/02 – BAGE 105, 32).
(2) Unter Berücksichtigung dieses Rahmens ist eine richtlinienkonforme Auslegung der § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG möglich und angezeigt.
Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorgaben der MERL in das deutsche Kündigungsschutzrecht umsetzen wollen (s. beispw. BT-Drucks. 12/7630 S. 8 f.). Er ist nicht bewusst von den europäischen Richtlinienvorgaben abgerückt. Dies zeigen seine gesetzgeberischen Aktivitäten anlässlich der Änderungen der Massenentlassungsrichtlinie durch den Rat der Gemeinschaft.
(3) Angesichts des Wortlauts des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht von vornherein auszuschließen (vgl. auch Dornbusch/Wolf BB 2005, 885, 886; Nicolai NZA 2005, 206; Osnabrügge NJW 2005, 1093, 1094; Wolter AuR 2005, 135, 136 ff.). Der in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verwendete Begriff der “Entlassung” kann nach allgemeinem Sprachgebrauch auch im Sinne von “Kündigung” verstanden werden (siehe auch BAG 23. Oktober 1959 – 2 AZR 181/56 – BAGE 8, 172). Dies gilt umso mehr, als in zahlreichen Vorschriften “Entlassung” und “Kündigung” synonym gebraucht werden, wie beispielsweise in § 14 Abs. 2 KSchG, § 5 Abs. 3 und § 104 BetrVG, § 90 Abs. 2 SGB IX, § 2 Abs. 2 ArbPlatzSchG (s. auch Riesenhuber/Domröse NZA 2005, 568; Wolter AuR 2005, 135, 137; Jakobs/Naber SAE 2006, 61, 64). Dementsprechend überschreitet eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes jedenfalls nicht den Wortsinn der gesetzlichen Regelung.
Gleiches gilt für die Gesetzessystematik. Der Gesetzgeber hat nicht trennscharf zwischen dem Begriff der Kündigung und dem der Entlassung entschieden. Dies gilt schon für das Kündigungsschutzgesetz, in dem der Gesetzgeber auch außerhalb des Dritten Abschnitts, beispielsweise in § 14 Abs. 2 KSchG, den Begriff der Entlassung erwähnt. Auch aus der Regelung des § 18 KSchG ergibt sich kein zwingendes entgegenstehendes systematisches Argument. § 18 Abs. 1, 2 und 4 KSchG betreffen zunächst nur die Folgen einer Massenentlassungsanzeige. Auch behält § 18 Abs. 1 und 2 KSchG bei – kurzen – Kündigungsfristen einen Anwendungsbereich; § 18 Abs. 4 KSchG wäre ggf. teleologisch zu reduzieren.
Schließlich steht auch der Sinn und Zweck der §§ 17 ff. KSchG einer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen. Selbst wenn § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG primär arbeitsmarktpolitischen Zwecken dient und der Arbeitsverwaltung die Möglichkeit verschafft werden soll, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung der Entlassenen zu sorgen (vgl. BAG 6. Dezember 1973 – 2 AZR 10/73 – BAGE 25, 430; zuletzt Senat 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20 = EzA KSchG § 17 Nr. 14 mwN; ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 17 KSchG Rn. 2; KR-Weigand 7. Aufl. § 17 KSchG Rn. 7), spricht dies nicht gegen eine frühe Einschaltung der Agentur für Arbeit und gegen eine richtlinienkonforme Auslegung. Zum einem wird dieser Zweck auch von der MERL verfolgt (vgl. Art. 4 Abs. 2 MERL; siehe auch EUGH – C-188/03 – EuGHE I 2005, 885 Rn. 47). Zum anderen verlangen auch die neueren sozialrechtlichen Regelungen eine frühzeitige Beteiligung der Arbeitsverwaltung. Die rechtzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit entspricht der präventiven Orientierung des Arbeitsförderungsrechts und der flankierenden sozialrechtlichen Instrumente. So setzen beispielsweise die Transferleistungen der §§ 216a ff. SBG III bereits ein, wenn ein Arbeitnehmer auf Grund von Betriebsänderungen von Arbeitslosigkeit bedroht ist. Nach dieser Norm soll eine rechtzeitige Qualifizierung und Vermittlung “aus Arbeit in Arbeit” erreicht werden (vgl. Niesel-Roeder SGB III 3. Aufl. § 216a Rn. 2). Auch ist der Arbeitgeber nunmehr nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III verpflichtet, den Arbeitnehmer vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses frühzeitig über die Notwendigkeit eigener Aktivitäten bei der Suche nach einer anderen Beschäftigung sowie über die Verpflichtung zur unverzüglichen Meldung bei der Agentur für Arbeit zu informieren. Die Arbeitnehmer sind demgegenüber nach § 37b Satz 1 SGB III verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts ihres Arbeitsverhältnisses persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend zu melden (vgl. im Einzelnen Niesel-Brand SGB III 3. Aufl. § 37b Rn. 4 ff.; Zieglmeier DB 2004, 1830 ff.). Sinn und Zweck dieser frühen Meldepflicht ist die Beschleunigung der Eingliederung von Arbeitssuchenden und damit eine Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Zahlung von Entgeltersatzleistungen (BT-Drucks. 15/25 S. 27).
Diese sozialrechtlichen Regelungen verdeutlichen, dass aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ein frühzeitiger Kontakt des Arbeitnehmers und zukünftigen Arbeitslosen zur Agentur für Arbeit herzustellen ist. Alle diese Maßnahmen dienen dazu, die Eingliederung von Arbeitssuchenden zu beschleunigen und damit der Vermeidung von Arbeitslosigkeit (vgl. Niesel-Brand SGB III 3. Aufl. § 37b Rn. 1). Dies entspricht auch dem Zweck des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG, nämlich rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten und für eine anderweitige Beschäftigung der Entlassenen zu sorgen. Demgemäß lässt sich unter Berücksichtigung des geänderten sozialrechtlichen Umfeldes kein Widerspruch zum Zweck des § 17 KSchG feststellen, auf die Kündigung als maßgeblichem Anknüpfungspunkt für den Massenentlassungsschutz abzustellen (vgl. zum sozialrechtlichen Umfeld auch Kohte Juris PR-ArbR 45/2005 vom 9. November 2005 Anm. zum Urteil des LAG Hamm vom 8. Juli 2005 – 7 Sa 512/05 –; aA Jakobs/Naber SAE 2006, 61, 65 “Schonung des Arbeitsmarkts”).
3. Kommt es demnach auf den Ausspruch der Kündigung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an und ist vorliegend auch keine rechtzeitige Massenentlassungsanzeige der Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit erfolgt, so ist die Kündigung vom 30. Juli 2004 dennoch nicht unwirksam. Selbst wenn eine verspätete Massenentlassungsanzeige generell zur Unwirksamkeit einer vorher ausgesprochenen Kündigung führen würde (so früher BAG 6. November 1958 – 2 AZR 354/55 – BAGE 7, 4; 13. März 1969 – 2 AZR 157/68 – AP KSchG § 15 Nr. 10 = EzA KSchG § 15 Nr. 1; 6. Dezember 1973 – 2 AZR 10/73 – BAGE 25, 430; 6. Juni 1989 – 2 AZR 624/88 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 6 = EzA KSchG § 17 Nr. 4; ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 18 KSchG Rn. 2; siehe auch Osnabrügge NJW 2005, 1093, 1094; aA Ferme/Lipinski ZIP 2005, 593, 594; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 34 mwN) – was aber auf Grund des Sinns und Zwecks des Anzeigeverfahrens nicht zwingend erscheint –, verbietet es der Grundsatz des Vertrauensschutzes im vorliegenden Fall, die Kündigung vom 30. Juli 2004 als unwirksam anzusehen.
a) Als Teil der Staatsgewalt sind die Gerichte an das Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen bei Änderung ihrer Rechtsprechung, nicht anders als der Gesetzgeber bei Gesetzesänderungen, den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (BVerfG 14. Januar 1987 – 1 BvR 1052/79 – BVerfGE 74, 129, 154; BGH 18. Januar 1996 – IX ZR 69/95 – BGHZ 132, 6, 11; Löwisch FS Die Arbeitsgerichtsbarkeit S. 601, 610; Buchner Gedächtnisschrift R… Dietz). Vertrauensschutz bedeutet ua. Schutz vor Rückwirkung. Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbaren Rechtsbindungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Gleichwohl kann und darf ein Bürger auf die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Rechtslage und deren Bestand vertrauen. Er wird nicht unterscheiden müssen – und auch nicht können –, ob sich die Rechtslage direkt aus der Norm erschließt oder sich aus den Konkretisierungen der Rechtsprechung ergibt. Dennoch soll sich der Betroffene darauf verlassen dürfen, dass an einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich keine anderen – ungünstigeren – Voraussetzungen gestellt werden als sie im Zeitpunkt der Vollendung des Sachverhalts gefordert wurden. Der Bürger darf erwarten und sich darauf verlassen, dass sein zum Zeitpunkt der Handhabung rechtlich gefordertes Verhalten von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtswidrig oder nicht ausreichend qualifiziert wird (BVerfG 22. März 1983 – 2 BvR 475/78 – BVerfGE 63, 343, 357). Anders als in den Fällen, in denen es um die – bloße – rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts geht, liefe es in den Fällen, in denen ein Gestaltungsrecht bereits ausgeübt worden ist, auf eine unzulässige, im Ergebnis echte Rückwirkung hinaus, wenn eine Rechtsprechungsänderung voll durchschlüge. Deshalb darf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Rechtsprechungsänderung regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei rückwirkend Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann (29. März 1984 – 2 AZR 429/83 – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 55; 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 11; vgl. auch 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98 – AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; Düwell Das reformierte Arbeitsrecht Kapitel 4 Abschnitt 4 Rn. 17; Medicus WM 1997, 2333, 2337).
Zwar wirkt die Änderung einer auch lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, soweit dem nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist aber geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbare Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde (vgl. BGH 29. Februar 1996 – IX ZR 153/95 – BGHZ 132, 119, 9, 130; BAG 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – aaO).
b) Eine solche Situation ist nach Auffassung des Senats gegeben.
Sie wird auch von einem großen Teil der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung in dem vorliegenden Fall vergleichbaren Fällen im Ergebnis angenommen (vgl. LAG Köln 10. Mai 2005 – 1 Sa 1510/04 – LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49; LAG Berlin 1. Juli 2005 – 8 Sa 781/05 – ZInsO 2005, 1231; LAG Hamburg 1. Juli 2005 – 3 Sa 18/05 –; LAG Hamm 8. Juli 2005 – 7 Sa 512/05 – NZA-RR 2005, 578; LAG Rheinland-Pfalz 12. Juli 2005 – 5 Sa 1031/04 –; LAG Baden-Württemberg 11. August 2005 – 7 Sa 1256/04 – NZA-RR 2006, 16; 1. September 2005 – 11 Sa 42/05 –; aA LAG Mecklenburg-Vorpommern 20. September 2005 – 5 Sa 149/05 –).
aa) Für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige hatte die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf die “Entlassung” und damit auf den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Anwendung der § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG abgestellt. Der Senat hat diese Auffassung zuletzt noch einmal umfassend in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung am 30. Juli 2004 war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelungen nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der Entscheidung vom 18. September 2003 (aaO) auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinander gesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG – das Verständnis von “Entlassung” als “Kündigung” im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) unterstellend – als nicht möglich angesehen hatte.
bb) Auch die ganz herrschende Auffassung in der Literatur und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung hatte sich dieser Auffassung des Bundesarbeitsgerichts angeschlossen. Hinzu kommt, dass die Agentur für Arbeit ihre Verwaltungspraxis entsprechend gestaltet und eingerichtet hatte. Diesen Umständen kommt im Rahmen der Prüfung, ob dem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein ganz erhebliches Gewicht zu. Der Arbeitgeber muss sich insbesondere auf eine Entscheidung der Arbeitsverwaltung verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können (vgl. auch KR-Weigand 7. Aufl. § 17 KSchG Rn. 101; Mauthner: Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massenentlassungsrecht S. 223 mwN; Kliemt FS 25 Jahre ARGE Arbeitsrecht, 1237, 1242 S. 1237, 1250 ).
Die Schuldnerin bzw. der Beklagte konnten deshalb darauf vertrauen, richtig verfahren zu sein, wenn sie die Agentur für Arbeit vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers über die Massenentlassung informiert hatten.
cc) Dieses Vertrauen ist auch nicht durch relevante Aspekte vor dem Zugang der streitgegenständlichen Kündigung beseitigt worden. Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 entfallen sein.
(1) Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Europäische Gerichtshof zur Auslegung der MERL und der hier maßgeblichen Frage vor der Entscheidung “Junk” am 27. Januar 2005 inhaltlich nicht judiziert und der Senat – wie dargestellt – vielmehr dem Begriff der Entlassung auch in Anbetracht der MERL eine andere Bedeutung beigemessen hatte.
(2) Der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 (– 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, 1265) und die Thesen von Hinrichs in ihrer im Jahr 2001 erschienenen Dissertation “Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassung” konnten das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht relevant erschüttern. Es kann dahingestellt bleiben, wann dieser Vorlagebeschluss allgemein bekannt geworden war. Jedenfalls brauchte sich die Schuldnerin bzw. der Beklagte durch die Entscheidung eines einzelnen Arbeitsgerichts und vereinzelter Literaturstimmen noch nicht in seinem Vertrauen auf die Maßgeblichkeit einer bisher gefestigten ständigen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis irritieren zu lassen. Dies gilt umso mehr als der Senat noch in der Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) differenziert zu der Thematik Stellung genommen hatte.
(3) Schließlich konnte das Vertrauen in die bisherige Rechtslage auch nicht durch die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 30. September 2004 (vgl. ZIP 2004, 2019) erschüttert werden. Dessen Schlussanträge lagen im Übrigen zum Zeitpunkt der Kündigung auch noch nicht vor (vgl. auch LAG Köln 10. Mai 2005 – 1 Sa 1510/04 – LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49).
dd) Das Vertrauen des Beklagten ist schutzwürdig. Dem vorgehende schutzwürdige Interessen des Klägers sind nicht beeinträchtigt.
Die Agentur für Arbeit hat keine Einwände gegen die Massenentlassungsanzeige der Schuldnerin vorgebracht. Es würde deshalb eine unzumutbare Härte für den Beklagten bedeuten, wenn allein wegen des durch die Rechtsprechungsänderung entstandenen formellen Fehlers, der für die Schuldnerin nicht absehbar war, die Kündigung unwirksam wäre. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs wurde eine entsprechende Anzeigepflicht weder von der ständigen Verwaltungspraxis noch der Rechtsprechung gefordert. Durch eine entsprechende Unwirksamkeit der Kündigung könnten nicht nur in zahlreichen Altfällen erhebliche finanzielle Nachteile entstehen. Auch dem mit der Anzeigepflicht verbundenen Zweck der MERL wäre nicht besser gedient. Die Anzeigepflicht bezweckt nach wie vor nicht primär einen Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung, sondern dient dem Ziel einer effektiven Verwaltung der Massenentlassung und der -arbeitslosigkeit und damit vor allem arbeitsmarktpolitischen Zwecken. Dementsprechend werden auch keine relevanten individual-rechtlich geschützten Interessen des Klägers betroffen. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass der Kläger einen Anspruch auf ein nach materiellem Recht richtiges Urteil hat (Medicus WM 1997, 2333, 2337). Eine Partei, die das Recht auf ihrer Seite hat, muss allerdings ein ihr ungünstiges Urteil ausnahmsweise hinnehmen, wenn dies der Vertrauensschutz für den Prozessgegner gebietet. Dies ist anzunehmen, wenn nunmehr eine Handlung als fehler- oder schuldhaft qualifiziert wird, die zur Zeit ihrer Vornahme der damals herrschenden Rechtsüberzeugung entsprach (Medicus NJW 1995, 2377, 2380; ders. WM 1997, 2333, 2337).
Betrachtet man diese Aspekte und wägt sie gegeneinander ab, so ist im Hinblick auf das Vertrauen der Schuldnerin bzw. des Beklagten einerseits und unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers andererseits eine unzumutbare Härte anzuerkennen.
c) Dem Senat ist die Entscheidung über den Vertrauensschutz auch nicht “entzogen”.
Der Senat war insbesondere nicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet (so Schiek AuR 2006, 41, 43 f.). Er hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht “richtlinienkonform” angewendet, in dem er den Begriff der “Entlassung” in § 17 Abs.1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der Richtlinie verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (vgl. Canaris FS Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Rost, Bröhl, Eylert, Nielebock, Heise
Fundstellen
Haufe-Index 1559362 |
BAGE 2007, 281 |
BB 2006, 1971 |
DB 2006, 1902 |
DStR 2006, 807 |