Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorrang der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 GG vor Einschränkungen durch vertragliche Nebenpflichten oder Impfnachweispflichten. Kein Pflichtenverstoß des Arbeitnehmers einer vulnerablen Einrichtung bei Ablehnung der Corona-Impfung. Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte. Kein öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverbot aus § 20a Abs. 1 IfSG. Entgeltfortzahlung bei Freistellung aus Infektionsschutzgründen. Kein gravierendes Selbstverschulden bei Erkrankung eines Nichtgeimpften an Corona
Leitsatz (amtlich)
1. § 241 Abs. 2 BGB normiert eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Vertragspartners. Dabei muss die gesetzgeberische Wertung in § 20a IfSG berücksichtigt werden. Die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG unter Gesetzesvorbehalt gestellte grundrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit kann nicht einer gesetzlich nicht konkret normierten Nebenpflicht zum Opfer fallen. Damit kann mit einer "Nachweispflicht" keine "Impfpflicht" begründet werden.
2. Wenn sich ein Arbeitnehmer in einer vulnerablen Einrichtung gegen eine Impfung entschied, war ihm die Vorlage eines - nicht vorhandenen - Nachweises iSd. § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG objektiv unmöglich. Zur Beschaffung eines Nachweises und damit zu einer Impfung konnte er nicht gezwungen werden. Damit lag auch kein objektiver Pflichtverstoß vor, wenn er keinen Nachweis vorgelegt hat. Folglich ist eine diesbezüglich ausgesprochene Abmahnung zu Unrecht erfolgt und aus der Personalakte des Arbeitnehmers zu entfernen.
3. Annahmeverzug bei Freistellung wegen fehlenden Nachweises: Für sog. Altarbeitnehmer normierte § 20a Abs. 1 IfSG kein öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverbot, wie es für Neuarbeitnehmer nach § 20a Abs. 3 Satz 3 IfSG galt. Die Arbeitsleistung war nicht rechtlich unmöglich.
4. Entgeltfortzahlung aufgrund Erkrankung eines Nichtgeimpften an Corona: Ein grober oder gröblicher Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten kann nicht allein darin gesehen werden, dass sich die Klägerin dazu entschied, sich nicht impfen zu lassen und im Anschluss erkrankte. Die Wertung aus § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG kann hier nicht übernommen werden, weil die Rechtsnatur einer Entschädigung und der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht vergleichbar ist.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Arbeitnehmer kann in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte verlangen. Denn eine missbilligende Äußerung des Arbeitgebers in Form einer Abmahnung ist geeignet, den Arbeitnehmer in seinem beruflichen Fortkommen und seinem Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Zu Unrecht erteilt ist die Abmahnung u.a., wenn ihr keine Pflichtverletzung des Arbeitnehmers zugrunde lag.
2. Der Arbeitgeber ist auch dann, wenn er aus Präventionsgründen - ohne infektionsschutzrechtliche behördliche Anordnung - den Arbeitnehmer freistellt, diesem für die Zeit der Freistellung zur Vergütungsfortzahlung verpflichtet.
Normenkette
IfSG § 20a Abs. 1-2; BGB § 241 Abs. 2; EFZG § 3 Abs. 1; IfSG § 56 Abs. 1 S. 4; GG Art. 2 Abs. 2; BGB §§ 242, 293-294, 296-297, 611a Abs. 2, §§ 615, 1004; IfSG § 73 Abs. 1a Nr. 7
Verfahrensgang
ArbG Villingen-Schwenningen (Entscheidung vom 04.08.2022; Aktenzeichen 5 Ca 124/22) |
Nachgehend
Tenor
I.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen vom 04.08.2022 - 5 Ca 124/22 - abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
- Der Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 17. März 2022 aus der Personalakte der Klägerin zu entfernen.
- Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für den Monat März 2022 2.564,28 € brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 324,22 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten jährlich über dem Basiszins aus dem Bruttobetrag seit 3. April 2022 zu bezahlen.
- Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
II.
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
III.
Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
IV.
Für den Beklagten wird die Revision zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Zahlung von restlicher Vergütung für den Monat März 2022 sowie um eine Abmahnung vom 17. März 2022 vor dem Hintergrund des vom 12. Dezember 2021 (mit Änderungen ab 19. März 2022) bis zum 31. Dezember 2022 geltenden § 20a Infektionsschutzgesetzes (im Folgenden: IfSG).
Die Klägerin ist seit 29. August 2007 bei dem Beklagten, der eine Altenpflegeeinrichtung betreibt, als Altenpflegerin mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst von 4.629,97 € brutto im Schichtdienst beschäftigt.
Bis 15. März 2022 hatte sie dem Beklagten weder einen Impf-Nachweis noch einen Genesenen-Status in Bezug auf Covid 19 vorgelegt. Deshalb stellte der Beklagte sie mit Schreiben vom 26. Januar 2022 (Anl. K1, ABl. 10 f. der erstinstanzlichen Akte) ...