Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit eines Streiks zur Durchsetzung eines Entlastungstarifvertrages im Gesundheitswesen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tarifforderungen der beklagten Gewerkschaft gemäß Schreiben vom 01.05.2022 sind hinreichend bestimmt. Nicht abschließende oder beispielhafte Angaben im Aufforderungsschreiben stehen der Bestimmtheit der Tarifforderungen vorliegend nicht entgegen. Die Arbeitgeberseite kann sich hinreichend darauf einstellen, wie sie auf die formulierten Tarifziele reagiert, um einen Arbeitskampf zu vermeiden. Die Funktion des Arbeitskampfs besteht nur darin, die eigentlichen Tarifverhandlungen anzuschieben; die konkrete Ausgestaltung ist Sache der Tarifverhandlungen. In diesem Sinne haben die Parteien auch seit Monaten Tarifgespräche geführt, wenn auch noch ergebnislos.
2. Der Streik ist nicht rechtswidrig mangels tariflicher Regelbarkeit aufgrund ausschließender Regelungen des Gesetzes über die Pflegeberufe sowie des Gesetzes über den Beruf der Anästhesietechnischen Assistentin und des Anästhesietechnischen Assistenten und über den Beruf der Operationstechnischen Assistentin und des Operationstechnischen Assistenten. Diese gesetzlichen Regelungen stehen nach Wortlaut sowie ihrem Sinn und Zweck insbesondere einer zur Stärkung der Ausbildungsqualität beabsichtigten günstigeren Regelung der Tarifvertragsparteien nicht entgegen. Es handelt sich hierbei um eine angestrebte Verbesserung von Arbeits- bzw. Ausbildungsbedingungen, die - anders als Ausbildungsinhalte - dem Schutzbereich des Art 9 Abs. 3 GG unterfällt.
3. Der Streik für einen "Tarifvertrag Entlastung" verstößt nicht gegen die tarifvertragliche Friedenspflicht. Weder der TV-L noch die einschlägigen Ausbildungstarifverträge TVA-L Gesundheitsberufe und dem TVA-L Pflege regeln (abschließend) das Streikziel einer präventiven, vorbeugenden Verhinderung des Entstehens spezifischer Belastungssituationen.
4. Schließlich ist der Streik zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht unverhältnismäßig. Das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG unterliegt Einschränkungen, soweit verfassungsrechtlich geschützte Güter Dritter - hier Patientenrechte nach Art. 2 Abs. 2 GG - betroffen sind. Es bedarf eines Ausgleichs der beiderseitig verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen im Wege der praktischen Konkordanz. Dieser Grundsatz fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal durchgesetzt werde. Alle Interessen müssen einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Im Bereich der Daseinsvorsorge eines Klinikbetriebs bedeutet dies, dass vorrangig eine angemessene, ausreichende und geeignete Notversorgung sicher zu stellen ist. Eine Notversorgung, die diesen Anforderungen entspricht, haben die Parteien in konstruktiver Art und Weise im Verhandlungstermin am 29. Juni 2022 vereinbart, indem sie unter anderem die Notversorgung qualitativ und quantitativ durch die Erhöhung des Mindestbetriebs von 16 Operationssälen auf 25 Operationssäle nebst entsprechendem Fachpersonal verbesserten.
Normenkette
GG Art. 9
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Entscheidung vom 14.06.2022; Aktenzeichen 3 Ga 14/22) |
Tenor
Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 14.06.2022 - 3 Ga 14/22 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Verfügungsklägerin strebt im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens die Unterlassung weiterer Arbeitskampfmaßnahmen durch die beklagte Gewerkschaft, die einen Entlastungstarifvertrag für Beschäftigte an allen U in Nordrhein-Westfalen (NRW) erreichen will, an.
Die Verfügungsklägerin ist die in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts gebildete U in B , die kraft Hochschulgesetz NRW Mitglied im Arbeitgeberverband des Landes NRW (AdL NRW) ist, der seinerseits Mitglied in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) ist. Im Bereich der TdL gelten insbesondere der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L), der Tarifvertrag für Auszubildende der Länder in der Pflege (TVA-L Pflege) und der Tarifvertrag für Auszubildende der Länder in Gesundheitsberufen (TVA-L Gesundheit). Die letzte Tarifeinigung in diesem Bereich wurde am 29.11.2021 mit einer Mindestlaufzeit bis zum 30.09.2023 erzielt. Die Verfügungsklägerin betreibt zudem eine staatlich anerkannte Pflegeschule, die bereits vor dem 31.12.2019 bestand (§§ 9, 65 Abs. 3 PflegeberufeG) sowie eine Schule für anästhesie- und operationstechnische Assistenten nach dem ATA-OTA-G. Die Verfügungsbeklagte ist die V mit Sitz in B .
Am 14.02.2022 forderte die Verfügungsbeklagte den AdL NRW auf, Verhandlungen über einen "Tarifvertrag Entlastung für alle U in NRW" aufzunehmen. Um ihrem Begehren Nachdruck zu verleihen, erfolgten im Zeitraum Mitte April 2022 bis Anfang Mai 2022 von der Verfügungsbeklagten organisierte Warnstreiks.
Unter dem 20.04.2022 haben die Parteien eine Notdienstvereinbarung (NDV) geschlossen. Die NDV endet ohne Nachwirkung zum 30.06.2022. Wegen der Einzelheiten der NDV wird auf Bl. 193 f...