Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall gem § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7. sachlicher Zusammenhang. Handlungstendenz. betriebliche Tätigkeit. Überlassung vom Arbeitgeber geleaster Fahrräder. kein Dienstfahrrad. spezifische Pflicht zur alljährlichen Wartung: vorformulierte Vertragsklauseln und konkrete Vorgaben zur Durchführung. Nachhauseweg von der jährlichen Fahrradwartung
Leitsatz (amtlich)
1. Überlässt ein Arbeitgeber seinen Beschäftigten im Rahmen einer Barlohnumwandlung von ihm geleaste Fahrräder zur uneingeschränkten Nutzung, so ist die Nutzung solcher Räder außer für den Arbeitsweg und zu dienstlichen Zwecken grundsätzlich eine privatnützige Tätigkeit.
2. Überbürdet der Arbeitgeber im Rahmen eines solchen JobRad-Modells eine spezifische Pflicht zur alljährlichen Wartung des von ihm geleasten Rades, die er dem Leasinggeber gegenüber übernommen hat, durch vorformulierte Vertragsklauseln seinen Beschäftigten und macht er diesen konkrete Vorgaben zur Durchführung (Vertragswerkstatt, Bezahlungsmodalitäten), so ist die Wartung eine versicherte dienstliche Tätigkeit.
3. Verunglückt der Beschäftigte auf dem Weg von einer solchen Jahreswartung seines Fahrrades nach Hause, liegt ein versicherter Wegeunfall vor.
Orientierungssatz
Bei dem sog Jobrad handelte es sich nicht um ein Arbeitsgerät iS von § 8 Abs 2 Nr 5 SGB 7 bzw nicht um ein Dienstfahrrad, weil es nicht für dienstliche Fahrten eingesetzt wurde, sondern nur für private Zwecke und für die Fahrt von und zur Arbeit.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Januar 2021 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. November 2018 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das Unfallereignis der Klägerin am 21. März 2018 ein versicherter Arbeitsunfall war.
Die Beklagte erstattet der Klägerin die außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die (gerichtliche) Feststellung eines Arbeitsunfalls.
Die Klägerin ist 1970 geboren und wohnt im Inland. Sie ist als Küchenhilfe bei der U GmbH (im Folgenden: Arbeitgeber) in S beschäftigt und insoweit bei der beklagten gewerblichen Berufsgenossenschaft gesetzlich unfallversichert. Sie wohnt in einer Gemeinde etwa vier Kilometer südlich ihrer Arbeitsstätte.
Der Arbeitgeber schloss mit der J GmbH (Sitz F.), einem Anbieter eines Programms für Leasing-Dienst-Fahrräder, einen Dienstleistungsvertrag. Dieses Unternehmen firmierte bei Vertragsschluss noch als L GmbH (Sitz bis Ende 2016 in G, vgl. Handelsregister HRB 703073 des AG F, abgerufen am 1. Oktober 2021). Im Rahmen ihrer Dienstleistungen vermittelt die J GmbH Leasingverträge zwischen den Arbeitgebern und Unternehmen, die als Leasinggeber auftreten und mit der J GmbH verbunden sind. Zu diesen gehört die MGmbH & Co. Finanz-KG (Sitz im Jahre 2016 in S1). Die Arbeitgeber stellen die geleasten Fahrräder - oft auf der Grundlage einer „Entgelt-“ oder „Barlohnumwandlung“ - ihren Mitarbeitern zur Verfügung, durchgängig auch bzw. ausschließlich zur privaten Nutzung (vgl. zu den Einzelheiten dieses Geschäftsmodells und den Unternehmen im Umfeld der J GmbH https://www.jobrad.org, abgerufen am 1. Oktober 2021).
Der Arbeitgeber als „Leasingnehmer“ schloss am 3. November 2016 einen „Leasing-Rahmenvertrag zum JobRad“ mit der MGmbH & Co. KG als „Leasinggeberin“ (im Folgenden: „M“). Darin war vorgesehen, dass der Arbeitgeber seinen Beschäftigten die Möglichkeit für ein Jobrad anbietet, für die interessierten Mitarbeiter das Leasingobjekt aus dem Angebot eines der Vertragshändler der J GmbH auswählt und dann dieses Fahrrad dem jeweiligen Mitarbeiter zur Verfügung stellt. Die Leasingraten sollte der Arbeitgeber zahlen. Die Nebenabreden ergaben sich aus den „Allgemeinen Vertragsbedingungen (AVB) zum Leasing-Rahmenvertrag“ (Stand 11/2015), die dem Vertrag beigefügt waren. Darin war unter anderem geregelt (§ 6 Abs. 2 AVB): „Der LN [Leasingnehmer] ist auf seine Kosten verpflichtet, das LO [Leasingobjekt] vertragsgemäß zu gebrauchen, zu unterhalten und in einem ordnungsgemäßen und funktionsfähigen Zustand zu erhalten; (…) Wartungs- und Inspektionsarbeiten unter Beachtung der Betriebs- und Wartungsanweisungen des Herstellers muss der LN auf eigene Kosten rechtzeitig durchführen lassen“. Ergänzend hierzu vereinbarten die Parteien (§ 7 des Vertrags), dass der Arbeitgeber die „Einbeziehung der JobRad-Inspektion“ wünsche, deren Einzelheiten sich aus dem „Merkblatt JobRad“ ergäben. In diesem Merkblatt war unter anderem ausgeführt, mit der „JobRad-Inspektion“ erhalte der Arbeitgeber als Leasingnehmer eine einfache, sichere und kostengünstige Möglichkeit, eine regelmäßige Inspektion in den Einzelleasingvertrag (…) einzuschließen und seinen Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen“. Geregelt war, dass der Dienstleister, die J GmbH, im Auftrag des Leasinggebers (hier der M) jährlich € 70,00 für diese Inspektion bereitstellt.
Am 30. April ...