Rz. 43
Eine Arbeitsunfähigkeit ist nach objektiven Gesichtspunkten festzustellen und nicht von der subjektiven Wertung der Arbeitsvertragsparteien abhängig. Der behandelnde Arzt hat insofern nach objektiven medizinischen Kriterien eine Bewertung vorzunehmen. Dabei hat er sowohl auf die Umstände und Schwere der Erkrankung als auch auf die Art der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung abzustellen. Der Arzt hat den Arbeitnehmer daher über Art und Umfang der tätigkeitsbedingten Anforderungen sowie die Arbeitsumgebung zu befragen und das Ergebnis bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen (siehe AU-Richtlinien). In der Praxis wird Letzteres oft vernachlässigt und kann Anlass für Zweifel an dem Beweiswert eines Attestes sein.
Bei Erkrankungen, deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers ganz erheblich von der konkreten Arbeitsplatzgestaltung abhängig sind, ist für den Beweiswert einer AU-Bescheinigung von besonderer Bedeutung, welche Angaben der Arbeitnehmer zur Arbeitsplatzsituation gemacht hat. In einem Rechtsstreit über Entgeltfortzahlungsansprüche muss der Arbeitnehmer daher ggf. auch zu diesen Angaben konkret vortragen.
Rz. 44
Die Abhängigkeit einer Arbeitsunfähigkeit von den konkreten Arbeitsanforderungen und -umständen kann dazu führen, dass dieselbe Erkrankung bei einem Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit begründet, während ein anderer Arbeitnehmer weiterhin arbeitsfähig ist.
Arbeitnehmerin A arbeitet in einem Callcenter als Telefonberaterin. Bei einem Badminton-Turnier am Wochenende verstaucht sie sich den Knöchel. Diese Erkrankung hindert sie nicht an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung.
Ihrem Kollegen B passiert dasselbe. Doch er arbeitet als Hausmeister. Da er nicht nur eine sitzende Tätigkeit ausübt, führt die Verstauchung zu einer Arbeitsunfähigkeit. B hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Rz. 45
Nimmt ein Arbeitnehmer irrtümlich an, dass er arbeitsunfähig erkrankt sei, z. B. aufgrund einer fehlerhaften Diagnose des behandelnden Arztes, hat er keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Selbstverständlich gilt nichts anderes, wenn dem Arbeitnehmer seine Arbeitsfähigkeit bekannt ist und er die fehlerhafte Diagnose durch eine Täuschung des Arztes herbeigeführt hat. In einem solchen Fall wird der Arbeitgeber in aller Regel berechtigt sein, eine verhaltensbedingte ordentliche oder außerordentliche Kündigung auf die Täuschung zu stützen.