Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 77
Bei der Berechnung, ob der Schwellenwert nach § 17 Abs. 1 KSchG überschritten ist, kommt es nicht auf die Anzahl der im konkreten Zeitpunkt der Entlassung beschäftigten Arbeitnehmer an, sondern auf die Zahl der "in der Regel" beschäftigten Arbeitnehmer. Der maßgebliche Begriff der Regelanzahl der Arbeitnehmer kommt nicht nur im Kündigungsschutzgesetz (z. B. § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG), sondern auch in anderen Gesetzesregelungen (z. B. §§ 1 Abs. 1, 9, 99, 106 Abs. 1, 111 Satz 1, 112a Abs. 1 BetrVG) vor und ist einheitlich zu verstehen. Die Regelarbeitnehmerzahl ist nicht die durchschnittliche Beschäftigtenzahl in einem bestimmten Zeitraum, sondern die normale Beschäftigtenzahl des Betriebs, d. h. diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen, also bei regelmäßigem Gang des Betriebs kennzeichnend ist. Erforderlich ist ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung, wobei Zeiten außergewöhnlich hohen Geschäftsanfalls (z. B. Weihnachtsgeschäft, Jahresabschlussarbeiten, Schlussverkauf) oder niedrigen Geschäftsanfalls (z. B. Ferienzeiten, Nachsaison) nicht zu berücksichtigen sind. Nicht mitzuzählen sind daher Arbeitnehmer, die nur vorübergehend beschäftigt werden, sei es aus Anlass einer außergewöhnlichen Arbeitshäufung oder als Ersatz für Arbeitnehmer, die sich im Urlaub befinden oder erkrankt sind (vgl. auch § 21 Abs. 7 Satz 1 BEEG; § 6 Abs. 4 Satz 1 PflegeZG). Nicht zu berücksichtigen sind auch Arbeitnehmer, die sich im Rahmen eines Altersteilzeit-Blockmodells nach der Arbeitsphase in der Freistellungsphase befinden. Zu berücksichtigen sind hingegen die Kurzarbeit leistenden Arbeitnehmer.
Rz. 78
Im Fall einer Betriebsstilllegung ist eine Vorausschau nicht möglich; dann kommt nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht. Im Stilllegungsfall ist auch bei einem sukzessiven Vorgehen des Arbeitgebers mit mehreren Entlassungswellen der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde. Die durch die Entlassungen jeweils reduzierten Belegschaftsstärken können aufgrund der vorherigen Stilllegungsentscheidung nicht mehr kennzeichnend für die regelmäßige Beschäftigtenzahl sein. Beschließt der Arbeitgeber, den Betrieb zu einem bestimmten Zeitpunkt stillzulegen, und entlässt er anschließend stufenweise Personal, so stellt der im Zeitpunkt dieser Beschlussfassung und nicht der spätere verringerte Personalbestand die für die Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 maßgebenden regelmäßige Arbeitnehmerzahl dar. Etwas anderes gilt jedoch, wenn mehreren aufeinander folgenden Personalreduzierungsmaßnahmen kein einheitlicher Stilllegungsentschluss zugrunde liegt, sondern wenn der endgültigen Stilllegung zunächst eine oder mehrere Betriebseinschränkungen vorausgingen. Wird der Betrieb zunächst mit entsprechend verminderter Belegschaftsstärke fortgeführt, wird diese zu der normalen, den Betrieb kennzeichnenden Arbeitnehmerzahl. Dafür ist kein bestimmter Mindestzeitraum erforderlich. In der Praxis kommt es daher insbesondere darauf an, wie der jeweilige Beschluss des Arbeitgebers zur Personalreduzierung dokumentiert wird.
Rz. 79
Werden Arbeitnehmer nicht ständig, sondern lediglich zeitweilig beschäftigt, kommt es für die Frage der "regelmäßigen Beschäftigung" darauf an, ob sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d. h. länger als 6 Monate beschäftigt werden. Dies gilt auch bei Saisonbetrieben, die jeweils für einige Wochen oder Monate im Jahr einen erhöhten Arbeitskräftebedarf haben. Die für diese Zeit vorübergehend eingestellten Arbeitnehmer zählen nicht zu den i. d. R. Beschäftigten. Etwas anderes gilt lediglich für reine Kampagnebetriebe, die überhaupt nur während eines Teils des Jahres arbeiten. In diesen ist die Beschäftigtenzahl während der Kampagne maßgebend.
Rz. 80
Der EuGH ging im Urteil v. 11.11.2015 wohl davon aus, befristet beschäftigte Arbeitnehmer seien generell zu den "in der Regel" beschäftigten, für die Betriebsgröße maßgeblichen Arbeitnehmern zu zählen. Das BAG bezweifelte dies zu Recht in dem (anderweitig erledigten) Vorlagebeschluss vom 16.11.2017 (vgl. Rz. 67). Befristet beschäftigte Arbeitnehmer sind allenfalls dann bei der Betriebsgröße mitzuzählen, wenn sie immer wieder für eine bestimmte Tätigkeit eingestellt werden und mit ihnen ein regelmäßiger Beschäftigungsbedarf gedeckt wird.