Rz. 18
Besteht eine Sachverhaltsidentität muss der Rechtsanwalt, um gegen die berufsrechtliche Grundpflicht aus § 43a Abs. 4 BRAO zu verstoßen, ferner eine andere Partei in derselben Rechtssache schon einmal im entgegengesetzten Interesse beraten oder vertreten haben.
Entscheidend für den Interessenwiderstreit ist, dass der Rechtsanwalt für zwei oder mehr Parteien tätig gewesen ist, deren Interessen gegenläufig sind. Er zeichnet sich durch die Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit der Interessen der Parteien aus, wodurch die Verwirklichung des einen rechtlichen Interesses unmittelbar zulasten des anderen gehen muss. Entsprechend ist das Dienen des Rechtsanwalts im Sinne von § 356 StGB pflichtwidrig, wenn er einer Partei Rat oder Beistand leistet, nachdem er einer anderen Partei in derselben Rechtssache, aber im entgegen gesetzten Sinne, bereits Rat und Beistand geleistet hat.
Rz. 19
Für den Interessenwiderstreit müssen die Interessen von rechtlich relevanter Art sein. Der Rechtsanwalt verstößt gegen § 43a Abs. 4 BRAO nur, wenn er den gleichen Lebenssachverhalt einmal in diesem und ein anderes Mal im entgegengesetzten Interesse rechtlich gewürdigt hat. Daher scheidet der Interessenwiderstreit aus, wenn der Rechtsanwalt für den Mandanten mit lediglich wirtschaftlich divergierenden Zielen tätig wird, wobei aber die fließende Grenze zwischen der Vertretung rechtlicher und wirtschaftlicher Interessen nicht außer Acht gelassen werden darf.
Rz. 20
In der Rechtsprechung und Literatur ist höchst umstritten, aus wessen Sicht die gegensätzlichen Interessen zu beurteilen sind. Hier steht ein subjektiver Ansatz, wonach das Interesse aus der Sicht des Mandanten zu beurteilen ist, einem objektiven Ansatz, wonach das Interesse aus der Sicht eines objektiven Beobachters als wohlverstandenes Interesse zu beurteilen ist, gegenüber.
Rz. 21
Die subjektive Ansicht trägt vor, dass der Streitstoff der Verfügung der Parteien unterliegt, wodurch der Auftraggeber das dem Anwalt erteilte Mandat durch Weisungen beschränken kann. Insbesondere in bürgerlich-rechtlichen Vermögensangelegenheiten, die der Disposition der Parteien unterliegen, sei der Gegenstand des Interesses subjektiv durch die jeweilige Partei zu bestimmen. Entsprechend wird das Vorliegen eines Interessenwiderstreits im Einzelfall von dem Auftrag abhängig gemacht, den der Rechtsanwalt erhalten hat, da er den Umfang der Belange bestimme, mit deren Wahrnehmung der Auftraggeber den Rechtsanwalt betraut hat.
Der subjektiven Ansicht werden die objektiven Schutzinteressen von § 43a BRAO entgegengehalten, wonach Grundlage der Regelung das Vertrauensverhältnis von Rechtsanwalt und Mandant, die Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und die im Interesse der Rechtspflege gebotene Gradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung sind. Diese Eigenschaften des Rechtsanwalts als unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalts sind grundsätzlich nicht disponibel und müssen im Interesse des Rechtsverkehrs objektiv gewährleistet werden.
Rz. 22
Im Jahre 2010 erklärte der Bundesgerichtshof den vorgenannten Streit für überholt. In Anlehnung an die Sozietätswechsel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sprach er sich dafür aus, dass den subjektiven Vorstellungen des Mandanten entscheidende Bedeutung zukommt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2003 selbst Folgendes ausgeführt:
Zitat
"Dies bedeutet indessen nicht, dass die Definition, was den Interessen des eigenen Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient, abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten vorgenommen werden darf."
Rz. 23
Hingegen sprach sich der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs zwei Jahre später dafür aus, dass das Parteiinteresse objektiv zu bestimmen ist, und widersprach einer subjektiven Bestimmung. Der Anwaltssenat begründete seine Entscheidung wie folgt:
Zitat
"Ein objektiv vorhandener Interessenwiderspruch lässt sich nicht durch den schlichten Hinweis darauf auflösen, dass der Mandant mit der Mandatserteilung selbst bestimmen könne, in welche Richtung und in welchem Umfang der Anwalt seine Interessen wahrnehmen möge. Zwar werden die Mandatspflichten eines Anwalts wesentlich durch den ihm erteilten Auftrag bestimmt. Der Anwalt ist an die Weisungen seines Auftraggebers gebunden, wobei es dem Mandanten, der das Misserfolgs- und Kostenrisiko trägt, durchaus freisteht, Weisungen zu erteilen, welche seinen wohlverstandenen Interessen aus der Sicht eines objektiven Betrachters widersprechen. Nicht selten sind Umfang und Ausgestaltung des Auftrags jedoch erst das Ergebnis der Erstberatung, welche dem Mandanten aufzeigen soll, welche Rechte er hat und wie er sie durchsetzen kann. Außerdem muss ein Anwalt den Mandanten auch im Rahmen eines eingeschränkten Mandats vor G...