Rz. 243

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern vom 16.4.2013[889] zum 19.5.2013 (siehe dazu eingehend Rdn 37 ff.) durchgängig hervorgehoben, dass es keinen Vorrang der gemeinsamen Sorge vor der Alleinsorge gebe.[890] Zwischen beiden Sorgerechtsgestaltungen bestehe kein Regel-Ausnahme-Verhältnis.[891] Zur Begründung hatte der BGH bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 29.9.1999 darauf hingewiesen, dass es keine gesetzliche Vermutung dafür gebe, dass die gemeinsame Sorge die beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei,[892] da sich eine elterliche Gemeinsamkeit in der Realität eben nicht verordnen lasse.[893] Ebenso wenig sei davon auszugehen, dass auf der Paarebene bestehende Streitigkeiten letztlich von dem Kind ferngehalten werden können. Soweit die Elternebene derart gestört sei, dass die Eltern nicht mehr miteinander kooperieren können oder wollen, stelle die Aufhebung der gemeinsamen Sorge die bessere Lösung für das Kind dar, da es dann durch den elterlichen Konflikt in der Regel weniger belastet werde.[894] Hieran hat der BGH in seiner Grundsatzentscheidung zu § 1626a Abs. 2 BGB vom 15.6.2016[895] ausdrücklich – und zu Recht – festgehalten. Die darin in Erinnerung gerufenen Grundsätze sind auch im Rahmen von § 1671 BGB zu berücksichtigen.[896]

 

Rz. 244

Bereits aus § 1627 BGB lässt sich ableiten, dass eine Kooperation der Eltern im Sinne einer objektiven Kooperationsfähigkeit und subjektiven Kooperationswilligkeit essentielle Voraussetzung für die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge ist.[897] Dies bedingt eine funktionierende Kommunikationsebene.[898] Um sich im Interesse des Kindes kooperativ verhalten zu können, müssen die Eltern in der Lage sein, eigene Interessen und Differenzen zurückzustellen[899] und den anderen Elternteil als gleichwertigen Bindungspartner des Kindes zu akzeptieren.[900] Die Aufhebung einer bisherigen gemeinsamen elterlichen Sorge zielt nicht darauf ab, zwischen den Eltern bestehende persönliche Defizite auszugleichen. Deshalb kann eine Alleinsorge eines Elternteils nicht damit begründet werden, dass so ein Gegengewicht zur "Dominanz" des anderen Elternteils geschaffen wird.[901] Zielrichtung ist allein das – letztentscheidende[902] – Kindeswohl.[903] Daher ist auch stets zu prüfen, ob überhaupt in absehbarer Zeit zu grundlegenden Fragen Entscheidungen zu treffen sein werden.[904] Kam es in der Vergangenheit nicht zu erheblichen Streitigkeiten über die Ausübung der gemeinsamen Sorge, ist deren Aufhebung regelmäßig nicht angezeigt.[905] Etwa, wenn ein – zumal weiter entfernt wohnender – Elternteil eher Desinteresse an der Sorgeausübung zeigt oder die faktische Alleinentscheidung durch den betreuenden Elternteil duldet und ggf. erforderliche Mitwirkungshandlungen vornimmt.[906] Dies gilt umso mehr, wenn der nicht betreuende Elternteil dem betreuenden Elternteil außerdem schon vor Verfahrenseinleitung eine umfassende Sorgeermächtigung (siehe dazu Rdn 20) erteilt hatte.[907] Gleiches gilt, wenn die Eltern faktisch ein funktionierendes Wechselmodell praktizieren, über Kindesbelange zwar jeweils ohne Absprache entscheiden, aber wichtige Einzelfragen ohne gerichtliche Hilfe regeln können.[908]

 

Rz. 245

Also schließt nicht jede Spannung oder Streitigkeit zwischen den Eltern die gemeinsame Wahrnehmung des Sorgerechts aus; vielmehr kommt es darauf an, welche Auswirkungen eine fehlende Einigung bei einer Gesamtbeurteilung der Verhältnisse auf die Entwicklung und das Wohl des Kindes haben wird.[909] Besteht zwischen den Eltern in den Grundlinien der Erziehung Einvernehmen und streiten sie nur über Nebenfragen, so besteht ebenso wenig Anlass, die gemeinsame Sorge aufzuheben, wie wenn unbeschadet bestehender Meinungsverschiedenheiten eine Kooperation auf der Elternebene noch möglich ist.[910] Denn aufgrund des "ethischen Vorrangs", der dem Idealbild einer von beiden Elternteilen auch nach ihrer Trennung verantwortungsbewusst im Kindesinteresse ausgeübten gemeinschaftlichen elterlichen Sorge einzuräumen ist, ist eine Verpflichtung der Eltern zum Konsens nicht zu bestreiten.[911] Es entspricht grundsätzlich dem Kindeswohl, wenn ein Kind in dem Bewusstsein lebt, dass beide Eltern für es Verantwortung tragen, und wenn es seine Eltern in wichtigen Entscheidungen für sein Leben als gleichberechtigt erlebt. Diese Erfahrung ist aufgrund der Vorbildfunktion der Eltern wichtig und für das Kind und für seine Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit prägend. Zudem werden in Diskussionen regelmäßig mehr Argumente erwogen als bei Alleinentscheidungen.[912] Von einer Kooperationsbereitschaft kann daher ausgegangen werden, wenn sich die Unstimmigkeiten zwischen den Eltern lediglich auf Alltagsprobleme erstrecken – etwa aufgrund sprachlicher Missverständnisse in einer binationalen Ehe[913] – oder den Rahmen bloßer Spannungen nicht überschreite...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge