Rz. 27
Bei insolventen Nachlässen handelt es sich überwiegend um kleinere Vermögensmassen. Zwar wird für die letzten Jahre eine niedrige dreistellige Anzahl von Verfahren mit einer Masse zwischen 500.000 EUR und 25 Mio. EUR vermutet. Doch vermag dies nichts daran zu ändern, dass es sich bei der Nachlassinsolvenz um ein gesamtwirtschaftlich betrachtet untergeordnetes Phänomen handelt. Die nachstehende Abbildung verdeutlicht das wirtschaftliche Ausmaß der Nachlassinsolvenz, indem sie die voraussichtlichen Forderungen aus den beantragten Nachlassinsolvenzverfahren betrachtet und in Relation zu allen beantragten Insolvenzverfahren über die Jahre seit der Einführung der InsO stellt:
Rz. 28
Rz. 29
Auch die Verfahrenszahlen stehen prima facie deutlich hinter den übrigen Insolvenzverfahren zurück: Im Jahr 2023 wurden von insgesamt 92.364 beantragten Insolvenzverfahren bis zu 3.689 Nachlassinsolvenzverfahren beantragt, von denen bis zu 1.967 Verfahren eröffnet (53,3 %) und bis zu 1.722 Verfahren mangels Masse abgewiesen wurden. Bei Unternehmensinsolvenzen lag die Eröffnungsquote dagegen bei 63,7 %. Eine näherungsweise Übersicht zu den insgesamt beantragten, abgewiesenen und eröffneten Nachlassinsolvenzverfahren seit Geltung der InsO vermittelt nachstehende Statistik:
Rz. 30
Es ist jedoch eine zunehmende Entwicklung zu verzeichnen. Die Statistiken sind zudem bei Lichte zu betrachten: 2023 waren etwa 5,65 Millionen volljährige Personen in Deutschland bereits zu Lebzeiten überschuldet, was einer Überschuldungsquote von ca. 8,15 % entspricht. Bei einer Zahl von 1,02 Millionen Sterbefällen im selben Jahr müssten rechnerisch etwa 83.000 Nachlässe überschuldet und damit insolvenzreif gewesen sein. Der Tod führt aufgrund der Entstehung weiterer Verbindlichkeiten, etwa Bestattungskosten oder Verbindlichkeiten aus Pflichtteilsrechten, Vermächtnissen sowie Auflagen, zumal oft zu einer weiteren Verschlechterung der Vermögenslage, sodass von einer noch höheren Anzahl materiell insolvenzreifer Nachlässe ausgegangen werden kann. Zudem verfügen bei Betrachtung der Vermögensverteilung in Deutschland die drei untersten Zehntel der Bevölkerung über nahezu kein Vermögen. Bisher wurde eine Zahl von etwa 100.000 bis 258.000 zahlungsunfähigen oder überschuldeten Nachlässen vermutet, welche unter Zugrundelegung der heutigen Verhältnisse noch gestiegen sein dürfte. Übertragen auf die Sterbefallzahlen im Jahr 2023 müssten statistisch rund 300.000 Nachlässe insolvenzgefährdet sein. In Anbetracht der Statistik zur Anzahl der im Jahr 2023 beantragten Nachlassinsolvenzverfahren lässt sich folgern, dass in maximal 4,4 % der Fälle überschuldeter Nachlässe ein Antrag auf Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens gestellt wird und die Mehrheit der eigentlich insolvenzreifen Nachlässe außerhalb des Nachlassinsolvenz abgewickelt werden dürfte. Dies wird auch als "kalte Eigenverwaltung" bezeichnet. Sie bringt die Gefahr mit sich, dass Nachlässe vor Stellung eines Nachlassinsolvenzantrags vorsätzlich zulasten der Nachlassgläubigergemeinschaft "ausgeplündert" werden.
Rz. 31
Hinzu kommt, dass von den beantragten Nachlassinsolvenzen eine beträchtliche Zahl an Verfahren vorschnell mangels Masse abgewiesen wird, weil das Insolvenzgericht oder die vom Gericht eingesetzten Sachverständigen oder vorläufigen Insolvenzverwalter bei der Prüfung der Insolvenzeröffnungsvoraussetzungen Ansprüche gegen die Erben aus fehlerhafter Verwaltung des Erbes (§§ 1978 ff. BGB) und aus Insolvenzanfechtung (§§ 134 ff. InsO) unbeachtet lassen. Generell mangelt es den Nachlassgerichten häufig an belastbaren und umfassenden Informationen über die Vermögenslage des Nachlasses und über dessen Veränderung zwischen Erbfall und Nachlassinsolvenzantragstellung; zu selten werden Informationen vom umfassend auskunftspflichtigen Erben verlangt und – von der InsO durchaus vorgesehene – Druckmittel zur Anwendung gebracht. Häufig sind Erben von sich aus gar nicht daran interessiert, ein Verfahren tatsächlich zur Eröffnung zu bringen, sondern bevorzugen einen Abweisungsbeschluss, um ihre Beweisposition in einem späteren Prozess zur Haftungsbeschränkung zu erleichtern.
Rz. 32
Sowohl die kalte Eigenverwaltung als auch die bisweilen vorschnelle Abweisung von Eröffnungsanträgen mangels Masse wirken sich zulasten der Nachlassinsolvenzgläubiger aus, deren Schutz die Vorschriften der §§ 1975 ff. BGB und der §§ 315 ff. InsO gerade bezwecken. Die Nachlassgläubiger können im ersten Fall von ihrem Insolvenzantragsrecht Gebrauch machen (§ 317 Abs. 1 InsO) und im zweiten Fall den zur Deckung der Verfahrenskosten erforderlichen Betrag vorschießen (§ 207 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 InsO) oder im Rahmen der erforderlichen Anhörung (§ 207 Abs. 2 InsO) gegen die Einstellung Bedenken darlegen, um ihre Befriedigungsaussichten zu verbessern.
Rz. 33
Derzeit hängt der Nachlassinsolvenz in Fachkreisen noch der Ruf eines praktisch nur wenig oder kaum rele...