Rz. 8
Wichtigstes Ziel der Kanzleiorganisation ist es, sicherzustellen, dass sämtliche Fristen und Termine beachtet werden, die nach den materiell-rechtlichen und prozessualen Vorschriften und Regeln zu beachten sind. Dieses vordringliche Ziel der Büroorganisation widerspricht in mancher Hinsicht einem effizienten betriebswirtschaftlichen Ablauf der Büroarbeit, ist jedoch unverzichtbar. Verfügt die Kanzlei nicht über die von der Rechtsprechung geforderten Sicherheitsvorkehrungen für die Notierung und Beachtung von Fristen und Terminen, wird dem Rechtsanwalt im Fall einer Fristversäumung keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann auf Antrag vom Gericht gewährt werden, wenn das Fristversäumnis unverschuldet war, die Schuldlosigkeit bezogen auf das Fristversäumnis glaubhaft gemacht und die versäumte Prozesshandlung nachgeholt wird. Gibt das Gericht dem Antrag statt, befindet man sich praktisch wieder in dem Stand des Verfahrens, in dem man vor dem Fristversäumnis war.
Rz. 9
Ein verschuldetes Fristversäumnis hat möglicherweise nicht nur unübersehbare Folgen für den Mandanten, sondern kann auch zu ganz erheblichen Haftungsansprüchen gegen den Anwalt führen.
Beispiel:
Rechtsanwalt R hat die Rechtsverteidigung gegen eine gegen seinen Mandanten A gerichtete Schadensersatzklage übernommen.
A verliert in der ersten Instanz den Prozess aufgrund einer Zeugenaussage der Ehefrau des Prozessgegners B. Nachdem das Urteil ergangen ist, meldet sich bei A ein Zeuge, der das Gegenteil dessen bestätigt, was die Ehefrau des B ausgesagt hat. Dies teilt A dem R mit. R, dessen Kanzleiorganisation chaotisch ist, wird der Brief des A nicht vorgelegt, weil er in einem Wust sonstigen Papiers verloren geht. Außerdem hatte R zwar die Berufungsfrist notieren lassen, es war jedoch keine Vorfrist notiert worden und die Anwaltsmitarbeiterin hatte vergessen, Rechtsanwalt R am Tag des Fristablaufs den Fristenkalender (bzw. die Akte) vorzulegen. Auch erfolgte keine Rückfrage des R bei A, ob Berufung eingelegt werden soll.
Betrachtet man den – sicherlich etwas konstruierten – Beispielfall, sieht man, dass hier verschiedene Fehler zusammenkommen, wobei jeder für sich bereits geeignet ist, den Vorwurf des Organisationsverschuldens zu begründen. Das Verschulden eines Rechtsanwalts muss sich die Partei jedoch wie eigenes Verschulden zurechnen lassen, § 85 Abs. 2 ZPO. Bei verschuldeten Fristversäumnissen der Partei oder des Anwalts ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich. Hat ein Mitarbeiter/eine Mitarbeiterin ein Fristversäumnis verschuldet, kann Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn das Fristversäumnis nicht auf einem Organisationsverschulden des Anwalts beruht. Der Anwalt ist daher gehalten, sein Büro so zu organisieren, dass ein Fristversäumnis ausgeschlossen ist.
Im obigen Fall hätte die Büroorganisation sicherstellen müssen, dass Post den Anwalt jederzeit und unverzüglich erreicht, nachdem sie im Büro eingegangen ist, zum anderen hätten Vorfrist und Frist notiert werden müssen.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand würde dem Anwalt bei einer solch nachlässigen Organisation sicher nicht gewährt werden, so dass mit Ablauf der Berufungsfrist dem Mandanten die Möglichkeit genommen ist, den ungünstigen Prozessausgang zu wenden.
R wäre dem Mandanten A im Übrigen zum Schadensersatz wegen der Pflichtverletzungen aus dem Anwaltsvertrag verpflichtet.
Rz. 10
Missachten der Rechtsanwalt und seine Mitarbeiter die Gebote der Fristenkontrolle, so wie sie von den Gesetzen und der Rechtsprechung vorgegeben werden, besteht für den Anwalt nicht nur die Gefahr, dass er sich immer wieder Regressen und dadurch erheblichen Versicherungsprämien ausgesetzt sieht. Darüber hinaus kann bei einer Häufung von Anwaltsversagen auch die Rechtsanwaltskammer eingreifen. Im Extremfall kann dem Anwalt die Zulassung entzogen werden.
→ Wie die Beachtung von Fristen und Terminen gewährleistet werden kann, wird in § 2 Fristenkontrolle beschrieben.