Rz. 30

Wie bereits erläutert, sollte das Konstrukt des standardisierten Messverfahrens dazu dienen, den Anforderungen eines Masseverfahrens im OWi-Bereich zu begegnen. Es dient nicht dazu sicherzustellen, dass Messfehler im täglichen Einsatz mit 100 prozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden können. Dies bestätigt auch der BGH noch einmal in seiner Rechtsprechung von 1993:[11]

Zitat

"Wie bei allen technischen Untersuchungsergebnissen, insbesondere solchen, die in Bereichen des täglichen Lebens außerhalb von Laboratorien durch "angelerntes" Personal gewonnen werden, ist eine absolute Genauigkeit, d.h. hier eine sichere Übereinstimmung mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit, nicht möglich. Der Tatrichter muss sich deshalb auch bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmeßgeräten bewusst sein, dass Fehler nicht auszuschließen sind."

Sind aber Fehler in einem anzuwendenden Verfahren nicht auszuschließen, so gebietet nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch das Rechtsstaatsprinzip, dass die Ergebnisse dieses Verfahrens überprüfbar sein müssen.

Darüber, ob eine solche Überprüfbarkeit sichergestellt ist und sichergestellt werden kann, wird insbesondere seit Einführung der digitalen Messverfahren vehement gestritten. Während PTB und Gerätehersteller auf einer "Korrektheitsgarantie" beharren, die sich aus der Prüfdichte im Zulassungsverfahren ergibt, fordern immer mehr Verteidiger und Sachverständige[12] das Abspeichern und Zurverfügungstellen der bei der Messung erhobenen Rohmessdaten (Begriffserläuterung unter Rdn 319).

 

Rz. 31

In einer vielbeachteten und heftig diskutierten Entscheidung hat der Saarländische Verfassungsgerichtshof am Beispiel eines Messgeräts TraffiStar S350 nun über die Notwendigkeit einer Überprüfbarkeit für den Betroffenen entschieden.[13] Der VerfGH war in seiner Entscheidung dabei unmissverständlich:

Zitat

"Es ist Teil der rechtsstaatlichen justiziellen Garantien, sich mit den von Bußgeldbehörden aufgeführten Beweismitteln auseinandersetzen zu dürfen und "Waffengleichheit" zwischen Behörden und Verteidigung einfordern zu dürfen."

Nun eröffnet das standardisierte Messverfahren dem Bußgeldrichter zwar die oben erwähnten Möglichkeiten im Regelfall von der Richtigkeit der erhobenen Messergebnisse ausgehen zu dürfen; es zwingt ihn jedoch nicht dazu. Wenn aber das Gericht nicht gehindert wäre zu versuchen, sich weitere (evtl. bessere) Erkenntnisse zu verschaffen, dann darf dies dem Verteidiger aus Gründen der Waffengleichheit auch nicht versagt werden.

 

Rz. 32

Weiterhin stellt der VerfGH des Saarlandes klar:

Zitat

"Messergebnisse eines standardisierten Messverfahrens haben – wie bundesrechtlich unbestritten ist – keine normativ bindende Kraft."

Das bedeutet aber auch, dass nicht nur aufgrund eines Messergebnisses verurteilt werden darf, ohne dass dem Betroffenen eine effektive Verteidigung und damit die Prüfung der Korrektheit einer standardisierten Messung gestattet werden muss.

Der VerfGH weiter hierzu:

Zitat

"Staatliches Handeln darf, so gering belastend es im Einzelfall sein mag, und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen besteht, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für die Bürgerin und den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehören auch die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen über eine Bürgerin oder einen Bürger führen, und ihre staatsferne Prüfbarkeit zu den Grundvoraussetzungen freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens."

 

Rz. 33

Diese Rechte stehen dem Betroffenen stets zu, nicht etwa nur, wenn es bereits Anhaltspunkte für einen Messfehler oder eine nicht korrekte Messung gibt, denn,

Zitat

"wenn zu den rechtlichen Rahmenbedingungen eines standardisierten Messverfahrens zählt, sich mit Einwänden gegen seine Ergebnisse wenden zu dürfen, so darf einem Betroffenen nicht von vornherein abgeschnitten werden, solche Einwände erst zu ermitteln."

 

Rz. 34

An diesem Erfordernis einer Prüfbarkeit des Messergebnisses durch den Betroffenen ändert auch eine Bauartzulassung oder Konformitätsprüfung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt nichts:

Zitat

"Solange eine Messung aber nicht durch die Bereitstellung der Datensätze – einschließlich auch der Statistikdatei – einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung – die im Übrigen keiner öffentlichen Transparenz und keiner Kontrolle der von der Verwendung der Messgeräte Betroffenen unterliegt – schlicht bedeuten, dass Rechtssuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären. Das ist nach der Überzeugung des Verfassungsgerichtshofes weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahr...

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