Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 9
Gemäß § 129 ZPO wird im Anwaltsprozess die mündliche Verhandlung durch Schriftsätze vorbereitet. Deren Inhalt wird aber dadurch, dass er zur Gerichtsakte gelangt, noch nicht zu einem die Parteien bindenden Vortrag. Es handelt sich vielmehr um die Ankündigung eines Vortrages, weshalb in den bestimmenden Schriftsätzen zumeist formuliert wird: "Der Kläger wird beantragen …"
Häufig ist sich eine Partei aber gar nicht im Klaren darüber, ob sie die angekündigten Anträge auch stellen soll. Sie möchte gern vom Gericht wissen, ob es die Klage für schlüssig hält oder ob es der Berufung Aussicht auf Erfolg beimisst. Letzteres ist insbesondere für den Fall bedeutsam, dass der Gegner Anschlussberufung eingelegt hat, der gemäß § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung entzogen werden könnte, indem die Berufung zurückgenommen wird.
Rz. 10
Eine Klage kann ohne Einwilligung des Gegners nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden, § 269 Abs. 1 ZPO. Da diese mit der Antragstellung beginnt, muss der Kläger also vorher in Erfahrung bringen, wie das Gericht die Rechtslage einschätzt.
Wenn der Richter – wie üblich – die schriftsätzlich angekündigten Anträge zu Protokoll diktiert, muss eine Partei, die sich unschlüssig ist, ob sie überhaupt zur Sache verhandeln will, dem Richter ins Wort fallen, um sich die Möglichkeit der Rücknahme der Klage ohne Zustimmung der Gegenseite offenzuhalten. Die Berufung kann der Berufungskläger nach § 516 Abs. 1 ZPO bis zur Verkündung des Berufungsurteils zurücknehmen. Die Zustimmung des Gegners ist dazu nicht erforderlich. Mit der Normierung dieses späten Zeitpunkts, zu dem eine Berufungsrücknahme möglich ist, soll der Berufungskläger in die Lage versetzt werden, noch nach der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht seine Prozesstaktik dem Verhandlungsergebnis anzupassen, um der Zurückweisung des Rechtsmittels zu entgehen.
Der Richter hat nach § 139 ZPO darauf hinzuwirken, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen. Der Antrag einer unschlüssigen oder unzulässigen Klage kann nicht sachdienlich sein, da insbesondere durch eine unzulässige Klage ein weiteres Gerichtsverfahren über die im Streit stehenden Punkte nicht endgültig vermieden wird. Deshalb wird der Richter zumindest dann, wenn er ausdrücklich nach seiner Bewertung der Rechtslage gefragt wird, vor Antragstellung seine Auffassung darlegen müssen, um dem Kläger die Möglichkeit zu eröffnen, auch ohne Zustimmung des Gegners seine Klage zurückzunehmen. (Der Anwalt des Gegners wird nicht um seine Gebühr gebracht, da die Erörterung der Sache vor Antragstellung eine Terminsgebühr auslöst.) Genauso sollte dem Kläger zumindest die Möglichkeit gegeben werden, seine schriftsätzlich angekündigten Anträge bei Bedenken hinsichtlich der Antragstellung noch zu verändern und ihnen so zur Schlüssigkeit/Zulässigkeit zu verhelfen. Das Gericht hat beispielsweise auf eine erforderliche Klarstellung des Verhältnisses mehrerer Klageanträge (häufig Haupt- und Hilfsanträge) zueinander hinzuweisen. Im Ergebnis geht es darum, dass das sich anhand des Prozessvorbringens ergebende Begehren durch korrekte und zweckmäßige Anträge erzielbar sein soll, wobei es nicht dem Gericht obliegt, die Anträge konkret zu formulieren; dies ist Aufgabe der Partei.
Rz. 11
Bevor ein Kläger sich zur Klagerücknahme entschließt, sollte er übrigens seine ganze Phantasie bemühen, einen anderen Weg zu suchen, die missliche und unausweichliche Kostenfolge des § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO zu vermeiden:
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Ist der Beklagte nicht passivlegitimiert, kann eine Klageänderung nach § 264 ZPO in Betracht zu ziehen sein; vielleicht lässt sich das Gericht auch auf eine Berichtigung des Rubrums ein. |
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Muss der Kläger einsehen, dass seine Klage unschlüssig ist oder er seiner Beweislast nicht wird genügen können, ist auch das noch kein Grund zu sofortiger Klagerücknahme. Schnelligkeit nützt jetzt sowieso nichts mehr, denn die Kosten sind allemal angefallen. |
Der Kläger könnte stattdessen das Vergleichsgespräch suchen; dabei mag sich zeigen, dass das Gericht die Erfolgsaussicht weniger ungünstig sieht als der Kläger selbst. Es kann auch sein, dass der Gegner aus Erwägungen, die sich dem Kläger nicht ohne Weiteres erschließen, an einer schnellen Erledigung im Vergleichswege interessiert ist. Vielleicht meint auch das Gericht, wenn nicht aus Rechtsgründen, so doch aus Gründen von "Sitte und Anstand" zu einem Vergleich raten zu sollen.
Rz. 12
Nebenbei:
Niemals sollte eine Partei ohne Not erkennen lassen, dass sie selbst ihre Prozesslage als hoffnungslos empfindet. Sie kann nicht sicher sein, ob nicht das Gericht gegenüber der Position des Gegners in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Bedenken hegt, die es jedoch nicht offenlegt, wenn jemand seinen Prozess selbst verloren gegeben hat.
Den Zweifel an der eigenen Rechtsposition nicht zum Ausdruck zu bringen, heißt aber wiederum nicht, "den starken Mann" zu spielen, wenn man schlechte Karten hat. Eine Partei und ihr Anwalt sollte...