Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 31
Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs hat Verfassungsrang, Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verletzung rechtlichen Gehörs ist ein Verfahrensfehler, der auf Rechtsmittel hin zur Aufhebung einer Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führen kann, bei sogenannter "greifbarer Gesetzeswidrigkeit" sogar dann, wenn an und für sich kein Rechtsmittel statthaft ist, wobei zuvor stets zu prüfen ist, ob nicht über die Anhörungsrüge zu den Fachgerichten (vgl. § 321a ZPO) vorgegangen werden muss.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Das Recht ist verletzt, wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass das Gericht Vorbringen einer Partei entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat. So beispielsweise BGH v. 3.12.2015 – VII ZR 77/15 – in einer Sache, in der ein LG in seinem Urteil einen Vortrag der Klägerin zur Beweisführung eines Vertragsschlusses nicht ausgeschöpft hat.
Nur ausnahmsweise kann das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs das Gericht dazu zwingen, bereits in der mündlichen Verhandlung auf die Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen will; nämlich dann, wenn die Partei trotz der von ihr zu erwartenden Sorgfalt nicht schon von sich aus die maßgeblichen Gesichtspunkte erkennen konnte.
Siehe auch § 139 Abs. 2 ZPO:
Auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat.
BGH NJW-RR 2000, 1569, 1570:
Zitat
An einer hinreichenden Gelegenheit zur Stellungnahme, die das Gebot des rechtlichen Gehörs gewährleisten will, fehlt es nicht nur dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder das Gericht bei seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde gelegt hat, zu denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten. Eine dem verfahrens- wie dem verfassungsrechtlichen Gebot genügende Gewähr rechtlichen Gehörs setzt vielmehr voraus, dass die Beteiligten in Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt erkennen konnten, auf welches Vorbringen es für die Entscheidung ankommen kann und wird.
Rz. 32
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist beispielsweise verletzt, wenn
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neuer Tatsachenvortrag einer Partei ohne die Gewährung einer Stellungnahme der Gegenseite verwertet wird, |
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ein erheblicher Beweisantrag übergangen wird, |
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das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Parteivortrag stellt, |
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Vorbringen zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen wird, |
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über einen Rechtsbehelf entschieden wird, ohne dass dem Gegner eine angemessene Frist zur Äußerung gegeben wird. |