Rz. 122
a) Der Fall
Rz. 123
Der damals 25-jährige Sohn der Klägerin verstarb am 7.1.2003 bei einem Arbeitsunfall, den der Beklagte, der in demselben Betrieb beschäftigt war, (mit-)verursacht hatte. Die Klägerin litt seit dem Tod ihres Sohnes unter einer schweren depressiven Störung. Sie begehrte von dem Beklagten unter Berücksichtigung eines möglicherweise gegebenen Mitverschuldens ihres Sohnes von einem Drittel ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung: 20.000 EUR).
Rz. 124
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte sie ihr Klagebegehren weiter.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 125
Das Berufungsgericht meinte, ein möglicher Schmerzensgeldanspruch der Klägerin sei ausgeschlossen, weil ihr Sohn einen Arbeitsunfall erlitten habe. Der Haftungsausschluss gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII gelte auch gegenüber Angehörigen und Hinterbliebenen von Versicherten desselben Betriebes. Er erfasse nicht nur die Ansprüche aus §§ 844, 845 BGB, sondern auch Ersatzansprüche aufgrund einer eigenen Gesundheitsverletzung Dritter, sofern diese – wie im Streitfall – eine mittelbare Folge des Unfalls sei. Da ein Versicherter unter den Voraussetzungen der §§ 104, 105 SGB VII selbst keinen (vollen) Ausgleich seines immateriellen Schadens erhalte, ergebe sich ein Wertungswiderspruch, wenn dieser Haftungsausschluss nicht auch für Schmerzensgeldansprüche schockgeschädigter Angehöriger gelte.
Rz. 126
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Das Berufungsgericht ging davon aus, dass die Klägerin infolge des Unfalltodes ihres Sohnes einen so genannten Schockschaden erlitten hatte, nämlich eine depressive Störung mit Krankheitswert, die nach Art und Schwere deutlich über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen nahe Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (vgl. Senatsurt. BGHZ 56, 163, 164 ff. und 93, 351, 355 ff.). Auf der Grundlage dieser Feststellungen zog es zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Ersatz ihres immateriellen Schadens gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 BGB in Betracht.
Rz. 127
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war dieser Anspruch vorliegend nicht gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen.
Nach dem Wortlaut des § 105 Abs. 1 SGB VII umfasst der Haftungsausschluss alle Ansprüche des Versicherten sowie seiner Angehörigen und Hinterbliebenen aus Personenschäden. Das sind all diejenigen Schäden, die durch die Verletzung oder Tötung des Versicherten verursacht worden sind. Dazu zählen grundsätzlich sowohl Ansprüche auf Ersatz materieller Schäden (z.B. aus den §§ 844 und 845 BGB) als auch solche auf Ersatz immaterieller Schäden. Ob der Haftungsausschluss auch Schmerzensgeldansprüche von Angehörigen oder Hinterbliebenen eines Versicherten aufgrund so genannter Schockschäden erfasst, hatte der Senat bislang offen gelassen (vgl. Urt. v. 13.1.1976 – VI ZR 58/74 – VersR 1976, 539, 540 [zu § 636 RVO]). Diese Frage hat er nunmehr verneint.
Rz. 128
§§ 104 und 105 SGB VII setzen voraus, dass ein Versicherungsfall i.S.v. § 7 SGB VII eingetreten ist, also ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall eines Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Die Klägerin selbst zählte nicht zu dem Kreis der Versicherten (§ 2 SGB VII). Sie selbst hatte auch keinen Arbeitsunfall erlitten, sondern allein ihr Sohn. Wären beide bei einem Arbeitsunfall des Sohnes gleichzeitig und unmittelbar körperlich verletzt worden, wäre ein eigener Anspruch der Klägerin nicht gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Die in §§ 104, 105 SGB VII geregelte Haftungsbegrenzung hat eigene Gesundheitsschäden von Angehörigen ersichtlich nicht im Blick.
Rz. 129
Für Gesundheitsbeeinträchtigungen, die Angehörige nicht unmittelbar bei einem Arbeitsunfall eines Versicherten erleiden, sondern die – wie Schockschäden – mittelbar durch den Versicherungsfall hervorgerufen werden, kann nichts anderes gelten. Der Anspruch des Angehörigen beruht auch in einem solchen Fall auf der Verletzung eines eigenen Rechtsguts.
Rz. 130
Ein Haftungsausschluss ist auch nicht nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 105 Abs. 1 SGB VII geboten.
Die in dieser Vorschrift bestimmte Haftungsbegrenzung dient dem Schutz des Betriebsfriedens. Erleidet ein Versicherter einen Arbeitsunfall, kommt diesem Gesichtspunkt nur dann Bedeutung zu, wenn der Versicherte trotz seiner Verletzung weiterhin dem Betrieb angehört. Das wird bei schweren Verletzungen, die bei nahen Angehörigen einen Schockschaden auslösen, nur selten der Fall sein. Beruht der Schockschaden – wie im Streitfall – auf...