BGH ändert Rechtsprechung zu Schmerzensgeld bei Schockschäden
Beklagter hatte Tochter des Klägers sexuell missbraucht
Gegenstand des vom BGH entschiedenen Falls war die Schmerzensgeldklage eines Vaters, dessen Tochter im Alter von 5 und 6 Jahren von dem Beklagten sexuell missbraucht worden war. Der Beklagte war wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs des Kindes rechtskräftig verurteilt worden.
4.000 Euro Schmerzensgeld wegen psychischer Qualen
Der Kläger litt nach Kenntnisnahme von diesen Ereignissen unter einer tiefgreifenden reaktiven depressiven Verstimmung, die therapeutisch behandelt werden musste. Für die Dauer von nahezu einem Jahr war er arbeitsunfähig krankgeschrieben. Das vom Kläger angerufene LG hatte ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt und dem Kläger wegen erlittener psychischer Qualen ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro zuerkannt. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil blieb vor dem OLG erfolglos.
BGH gibt die bisherige Rechtsprechung zu Schockschäden auf
Auch der BGH hielt den geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld dem Grunde nach für gegeben. In seinem Urteil gibt der BGH ausdrücklich seine bisherige Rechtsprechung auf, wonach das Erleiden eines Schockschadens infolge einer Verletzung naher Angehöriger nur dann einen Schmerzensgeldanspruch auslöst, wenn der erlittene Schockschaden über den bei einer Verletzung oder dem Tod eines nahen Angehörigen erwartbaren psychischen Schmerz hinausgeht (BGH, Urteil v. 8.12.2020, VI 19/20; BGH, Urteil v. 21.5.2019, VI ZR 299/17).
Konsequente Gleichstellung psychischer und physischer Beeinträchtigungen
Der Senat stellt klar, dass er eine konsequente Gleichstellung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB für geboten hält. Die in §§ 844, 845 BGB zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung, wonach Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechts bei einem Dritten zurückzuführen sind, mit Ausnahme der in diesen Vorschriften genannten Fälle ersatzlos bleiben, stehe dieser Änderung der Rechtsprechung nicht entgegen. Grundlage der Haftung für Schockschäden bei Verletzung naher Angehöriger sei nämlich nicht die Haftung für eine Verletzung von Rechtsgütern bei Dritten, sondern die Verantwortlichkeit für eine eigenständige psychische Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers.
Kein Schmerzensgeld in Bagatellfällen
Die von einigen befürchtete Ausuferung eines solchen Schmerzensgeldanspruches ist nach Auffassung des BGH nicht zu befürchten, denn weiterhin gelte, dass die eingetretene psychische Störung pathologisch fassbar sein und einen medizinisch messbaren Krankheitswert haben müsse. Auch künftig könne im Einzelfall bei geringfügigen Verletzungen sowohl des Körpers als auch der psychischen Gesundheit ein Schmerzensgeld versagt werden, wenn es sich nur um vorübergehende, für das Alltagsleben typische und nicht dauerhaft wirksame Beeinträchtigungen handelt, die sowohl von der Intensität als auch von der Art der Verletzung her das normale Leben des Verletzten nicht nachhaltig negativ beeinflussen.
Schädigungsgrad beim unmittelbar Betroffenen ist nicht entscheidend
Nach Auffassung des BGH steht der Annahme einer psychischen Gesundheitsverletzung des Klägers nicht entgegen, dass seine Tochter als unmittelbar von dem sexuellen Missbrauch Betroffene das Geschehen offenbar besser als der Kläger selbst weggesteckt hatte und bei ihr bisher keine körperlichen oder psychischen Verletzungen medizinisch feststellbar waren. Auch insoweit sei die psychische Verletzung des mittelbar von einem Geschehen Betroffenen eigenständig zu beurteilen.
Anspruchsteller muss nicht dabei gewesen sein
Darüber hinaus stellte der BGH klar, dass die Zurechnung eines Schockschadens keine unmittelbar räumliche und zeitliche Nähe des Anspruchstellers zum schädigenden Ereignis erfordert. Dies sei nach gefestigter Rechtsprechung bei der Zurechnung psychischer Gesundheitsverletzungen aufgrund von Unfallereignissen kein maßgebliches Kriterium (BGH, Urteil v. 27.1.2015, VI ZR 548/12) und auch nicht bei einem Schockschaden infolge der Kenntniserlangung vom sexuellen Missbrauch der Tochter.
Vorinstanz muss Schmerzensgeld neu berechnen
Damit hatten die Vorinstanzen einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch des Klägers zu Recht bejaht. Nach Auffassung des BGH enthielten die Ausführungen des Berufungsgerichts aber Rechtsfehler zur Bemessung des Schmerzensgeldes im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung gemäß § 287 ZPO. Die Vorinstanz habe sich nicht hinreichend mit der zu berücksichtigen Schadensanfälligkeit des Geschädigten aufgrund einer vorhandenen psychischen Prädisposition auseinandergesetzt. Zur Klärung der damit verbundenen Fragen hat der BGH den Rechtsstreit zum Zwecke einer erneuten, tatrichterlich vorzunehmenden Bemessung des Schmerzensgeldes an die Vorinstanz zurückverwiesen
(BGH, Urteil v. 6.12.2022, VI ZR 168/21)
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