Rz. 101
Im Ausgangspunkt zutreffend ging das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass die vom Senat zum "Schockschaden" entwickelten Grundsätze auch in dem Fall anwendbar sind, in dem das schadensbegründende Ereignis kein Unfallgeschehen im eigentlichen Sinne, sondern eine fehlerhafte ärztliche Behandlung ist.
Rz. 102
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung können psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen. Die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung setzt nicht voraus, dass diese Auswirkungen eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr grundsätzlich die hinreichende Gewissheit, dass die psychisch bedingte Gesundheitsbeschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht aufgetreten wäre. Im Bereich der sogenannten "Schockschäden" erfahren diese Grundsätze allerdings eine gewisse Einschränkung. Danach begründen seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, auch dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Denn die Anerkennung solcher Beeinträchtigungen als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB widerspräche der Absicht des Gesetzgebers, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch nach den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken und Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten zurückzuführen sind, mit Ausnahme der §§ 844, 845 BGB ersatzlos zu lassen. Psychische Beeinträchtigungen können in diesen Fällen deshalb nur dann als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
Rz. 103
Zu Recht hatte das Berufungsgericht diese Grundsätze im Ausgangspunkt im hier vorliegenden Fall angewendet, in dem das haftungsbegründende Ereignis kein Unfallereignis im eigentlichen Sinne, sondern eine fehlerhafte ärztliche Behandlung ist. Es ist kein Grund erkennbar, denjenigen, der eine (psychische) Gesundheitsverletzung im dargestellten Sinne infolge einer behandlungs-fehlerbedingten Schädigung eines Angehörigen erleidet, anders zu behandeln als denjenigen, den die (psychische) Gesundheitsverletzung infolge einer auf einem Unfallereignis beruhenden Schädigung des Angehörigen trifft.
Rz. 104
Weiter schied ein Schadensersatzanspruch auf der Grundlage des – auch im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden – Vortrags der Klägerin nicht deshalb aus, weil ihre psychischen Beeinträchtigungen nicht das von der Rechtsprechung geforderte außergewöhnliche Ausmaß erreicht hätten. Die Würdigung des Berufungsgerichts, die von der Klägerin behaupteten pathologisch fassbaren Beschwerden, ein mittelschweres depressives Syndrom und behandlungsbedürftige Angstzustände, gingen hinsichtlich Intensität und Dauer über das hinaus, was ein Angehöriger in vergleichbarer Lage erleide, war rechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 105
Rechtsfehlerhaft war allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte sei deshalb zu verneinen, weil die Erkrankung der Klägerin – auch bei unterstellter Kausalität der behandlungsfehlerbedingten Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten für die von der Klägerin behauptete (psychische) Gesundheitsverletzung – nicht vom Schutzzweck der verletzten Normen umfasst werde und sich in der Erkrankung der Klägerin deshalb lediglich das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht habe.
Rz. 106
Freilich bedarf der Zurechnungszusammenhang gerade in Fällen psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen einer gesonderten Prüfung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der verletzten Norm begrenzt wird. Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die Tatfolgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen worden ist. Hierfür muss die Norm den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezwecken; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden müssen also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fallen. Daran fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten.
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