Rz. 227
Das Berufungsurteil hielt der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts konnte ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB, § 7 Abs. 1, § 11 S. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden.
Rz. 228
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurden bei der Klägerin nach dem streitgegenständlichen Unfall Beschwerden und sichtbare Befunde festgestellt, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten; insbesondere war eine Muskelverspannung sowie eine Steilstellung der Halswirbelsäule gegeben. Darüber hinaus litt die Klägerin unter Übelkeit und starken Kopf- und Nackenschmerzen.
Rz. 229
Die Revision wandte sich nicht gegen die Annahme des Berufungsgerichts, ein Anspruch der Klägerin könne nicht auf die bei ihr diagnostizierte HWS-Distorsion 2. Grades und die festgestellte Muskelverspannung gestützt werden. Die Revision griff die Feststellung des Berufungsgerichts nicht an, diese Verletzungen seien nicht auf den streitgegenständlichen Unfall zurückzuführen.
Mit Erfolg wandte sich die Revision aber gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, eine andere "unfallbedingte Primärverletzung" der Klägerin sei nicht festzustellen, die bei der Klägerin aufgetretene Übelkeit und die starken Kopf- und Nackenschmerzen könnten nicht als "Primärfolge des Unfalls" gewertet werden.
Rz. 230
Die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils ließen bereits nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, welches Tatbestandsmerkmal der oben genannten Anspruchsgrundlagen mit diesen Ausführungen in Abrede gestellt werden sollte. Die Formulierungen sprachen teilweise für die Verneinung der für eine Haftung erforderlichen Rechtsgutsverletzung, teilweise für eine Verneinung der haftungsbegründenden Kausalität.
Rz. 231
Soweit das Berufungsurteil dahin zu verstehen sein sollte, dass die bei der Klägerin aufgetretene Übelkeit und die starken Kopf- und Nackenschmerzen schon nicht als Primärverletzung angesehen werden könnten – wofür insbesondere die Hilfsbegründung zur fehlenden Ursächlichkeit und die Begründung der Revisionszulassung sprachen – hätte das Berufungsgericht den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Primärverletzung verkannt.
Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Die genannten Bestimmungen bezwecken den Schutz konkret benannter Rechtsgüter und sehen die Sanktion des Schadensersatzes nur für den Fall vor, dass eine Rechtsgutsverletzung feststeht, d.h. unstreitig oder nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO bewiesen ist. Das Handeln des Schädigers als solches ohne festgestellte Rechtsgutsverletzung scheidet als Haftungsgrundlage ebenso aus wie der bloße Verdacht einer Verletzung.
Rz. 232
Demgegenüber enthält der Begriff der Primärverletzung – der Rechtsgutsverletzung – kein kausalitätsbezogenes Element; er nimmt insbesondere nicht die weitere Anspruchsvoraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität in sich auf. Ob das Handeln des Schädigers die festgestellte Rechtsgutsverletzung verursacht hat, ist in einem weiteren Schritt – ebenfalls nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO – zu prüfen (vgl. Senatsurteile v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13, VersR 2013, 1406 Rn 12 ff.; v. 23.6.2020 – VI ZR 435/19, VersR 2021, 1497 Rn 9, 20 a.E.).
Rz. 233
Ist Gegenstand des Klagebegehrens – wie im Streitfall – ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld, muss eine Rechtsgutsverletzung in Form einer Körper- oder Gesundheitsverletzung gegeben sein (§ 253 Abs. 2 BGB, § 11 S. 2 StVG). Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Körperverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB, § 7 Abs. 1, § 11 StVG weit auszulegen ist. Er umfasst jeden Eingriff in die Integrität der körperlichen Befindlichkeit. So können auch Nacken- und Kopfschmerzen eine Körperverletzung im Sinne dieser Bestimmungen und damit eine Primärverletzung begründen. Dies hatte das Berufungsgericht in dem dem Senatsurt. vom 23.6.2020 (VI ZR 435/19, VersR 2021, 1497 Rn 9, 20) zugrundeliegenden Fall übersehen und deshalb Feststellungen zu der weiteren Frage unterlassen, ob diese Schmerzen durch den Unfall verursacht worden waren (haftungsbegründende Kausalität).
Rz. 234
Von den Primärverletzungen sind Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handelt es sich um die auf eine haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung zurückzuführenden haftungsausfüllenden Folgeschäden. Sie setzen schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststeht. Dementsprechend können vom Geschädigten geltend gemachte Beeinträchtigungen seiner körperlichen Befindlichkeit von vornherein nur dann als Sekundärverletzungen qualifiziert werden, wenn eine haftungsbegründende, d.h. durch das Handeln des Schädigers verursachte Primärverletzung unstreitig oder festgestellt und nach medizinischen Erkenntnissen grundsätzlich geeignet ist, die weitere behauptete Beeint...