Rz. 138
BGH, Urt. v. 11.11.1997 – VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142 = VersR 1998, 201
Zitat
BGB § 249; ZPO § 287
1. |
Für die Frage, ob ein schädigendes Ereignis so geringfügig ist, dass nach den Grundsätzen des Senatsurt.s BGH v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341 ff. die Zurechnung psychischer Folgeschäden ausgeschlossen sein kann, kommt es auf die bei dem Schaden erlittene Primärverletzung des Geschädigten an. |
2. |
Beruht die vom Geschädigten geltend gemachte Erwerbsunfähigkeit auf einer psychischen Fehlverarbeitung des Schadensereignisses, so kann es der Tatrichter für Dauer und Höhe eines etwa in Betracht kommenden Verdienstausfallschadens berücksichtigen, wenn eine Prognose mit einer für ZPO § 287 ausreichenden Wahrscheinlichkeit ernsthafte Risiken für die Entwicklung der Berufslaufbahn des Geschädigten aufgrund seiner vorgegebenen psychischen Struktur ergibt. |
1. Der Fall
Rz. 139
Der Kläger machte Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 3.2.1986 geltend, für dessen Folgen die Beklagte als Haftpflichtversicherer einzustehen hatte.
Rz. 140
Bei dem Unfall stieß der bei der Beklagten versicherte Pkw schräg von vorn mit dem Pkw des Klägers zusammen und beschädigte diesen im Wesentlichen seitlich, wobei der angeschnallte Kläger mit seinem Kopf an den Türrahmen stieß. Bei der sich anschließenden ambulanten und röntgenologischen Untersuchung in einem Krankenhaus wurde bei grob neurologisch unauffälligem Befund eine Schädelprellung bei HWS-Schleudertrauma ohne äußere Verletzungen oder Anzeichen für eine Gehirnerschütterung festgestellt. Nach Auffassung des Arztes war Arbeitsunfähigkeit für fünf Tage gegeben und eine ambulante hausärztliche Betreuung ausreichend. In der Folgezeit klagte der Kläger über weitere körperliche Beeinträchtigungen und Lähmungserscheinungen, die er auf bei dem Unfall erlittene Verletzungen zurückführte. Aufgrund der Beschwerden gab er 1987 sein seit 1982 betriebenes Möbelgeschäft auf.
Rz. 141
Mit der Klage begehrte er Erstattung seines Verdienstausfallschadens von monatlich 3.360 DM abzüglich der monatlichen Zahlungen der Rentenversicherung, ein über den vorprozessual gezahlten Betrag von 7.000 DM hinausgehendes Schmerzensgeld, das er mit insgesamt 50.000 DM für angemessen hielt, sowie Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für Zukunftsschaden, soweit die Ansprüche nicht auf SVT übergegangen waren.
Rz. 142
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht meinte im Gegensatz zum LG, weder seine Erwerbsunfähigkeit noch seine weiteren körperlichen Beschwerden seien im haftungsrechtlichen Sinn auf den Verkehrsunfall zurückzuführen. Die Revision des Klägers führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 143
Die Revision stellte die Bewertung der körperlichen Schäden des Klägers durch das Berufungsgericht nicht in Frage. Mit Erfolg machte sie jedoch geltend, dass die Begründung, mit der das Berufungsgericht eine haftungsrechtliche Zurechnung seiner psychischen Schäden verneint hatte, nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats stand.
Rz. 144
Zutreffend war allerdings der rechtliche Ansatz des Berufungsgerichts, dass der Schädiger grundsätzlich auch für eine psychische Fehlverarbeitung als haftungsausfüllende Folgewirkung des Unfallgeschehens einzustehen hat, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre. In dem für die Zurechnung psychischer Schäden grundlegenden Senatsurt. v. 30.4.1996 (BGHZ 132, 341 [343 ff.] = VersR 1996, 990 [991]) hat der erkennende Senat ausgeführt, die Zurechnung solcher Schäden scheitere auch nicht daran, dass der Verletzte infolge körperlicher oder seelischer Anomalien oder Dispositionen besonders schadensanfällig sei, weil der Schädiger keinen Anspruch darauf habe, so gestellt zu werden, als habe er einen bis dahin Gesunden verletzt.
Rz. 145
Soweit der Senat in diesem Urteil jedoch näher dargelegt hat, in welchen Fällen der haftungsrechtlichen Zurechnung solcher Schäden Grenzen gesetzt seien, hatte das Berufungsgericht die hierfür entwickelten Grundsätze verkannt und im Streitfall die Voraussetzungen für eine Ausnahme von der Haftung auf der Grundlage unzureichender Tatsachenfeststellungen bejaht. Dabei ließen die Ausführungen des Berufungsgerichts nicht klar erkennen, ob es eine Zurechnung der Haftung unter dem Blickpunkt eines Bagatellschadens oder einer Begehrensneurose verneinen wollte. In beiden Fällen vermochte jedoch die Begründung das angefochtene Urteil nicht zu tragen.
Rz. 146
Soweit das Berufungsgericht darauf abhob, dass es sich um einen Unfall mit ganz geringfügigen Verletzungsfolgen handele und die psychische Reaktion des Klägers hierauf in einem groben Missverhältnis zum Anlass stehe und nicht mehr verständlich sei, sprach es zwar eine Fallgruppe an, für die nach den im Senatsurt. v. 30.4.1996 (a.a.O.) dargelegten Grundsätzen die haftungsrechtliche Zurechnung des Schadens ausgeschlossen sein kann, nämlich diejenigen Fälle, in denen...