Rz. 10
BGH, Urt. v. 12.11.1985 – VI ZR 103/84, VersR 1986, 448
Zitat
BGB §§ 823 Abs. 1, 847
1. |
Erleidet ein Unfallbeteiligter, der vom Schädiger in diese Rolle gezwungen worden ist, eine Unfallneurose, die auf das Miterleben des Unfalls mit schweren Folgen zurückzuführen ist, so sind darauf beruhende Gesundheitsschäden grundsätzlich dem Unfallgeschehen haftungsrechtlich zuzurechnen. |
2. |
Gesundheitsschäden aus Anlass einer so genannten Konversionsneurose sind jedenfalls dann zu ersetzen, wenn der Grund für ihre Entstehung nicht geringfügig ist und deshalb ihre Entstehung nicht als bloße Aktualisierung des allgemeinen Lebensrisikos erscheint. |
1. Der Fall
Rz. 11
Fahrer K. fuhr mit einem Lkw an einer Anschlussstelle auf die Bundesautobahn auf. Dabei flog aus dem geöffneten Seitenfenster der Fahrerkabine ein Lieferschein auf den mittleren Grünstreifen. Der Beifahrer B., Ehemann der Erstbeklagten und Vater der Zweitbeklagten, versuchte daraufhin zu Fuß, zwischen zwei auf der rechten Fahrspur fahrenden Personenkraftwagen hindurch auf den Mittelstreifen zu gelangen, um den Zettel wiederzuholen. Dabei geriet er vor den Pkw des Klägers, der auf der linken Fahrspur mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h herankam. Trotz eines Brems- und Ausweichmanövers fuhr der Kläger B. an und verletzte ihn so schwer, dass er bald darauf an den Unfallfolgen verstarb. Das Fahrzeug des Klägers wurde beim Aufprall beschädigt, er selbst erlitt einen schweren Kreislaufschock, eine Gehirnerschütterung, kleinere Schnittwunden an der linken Hand und eine Gewalteinwirkung im Bereich der Halswirbelsäule. In der Folgezeit musste der Kläger sich immer wieder ärztlich behandeln lassen. Am 1.6.1980 wurde er im Alter von 45 Jahren wegen seiner Beschwerden vorzeitig pensioniert.
Rz. 12
Der Kläger nahm die Beklagten als Erben des getöteten B. auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie auf Feststellung ihrer Ersatzpflicht für Zukunftsschäden in Anspruch. Dazu behauptete er, er leide nach wie vor an heftigen und anhaltenden Schmerzen, vom Brustkorb und den Schultern ausstrahlend in den Kopf und in die Arme bis in alle Finger hinein, sowie an Schwindelgefühlen; diese Beschwerden beruhten auf dem Unfallgeschehen.
Rz. 13
Die Beklagten meinten demgegenüber, der Kläger, dessen unfallbedingte organische Leiden längst abgeheilt seien, habe sich in die Krankheit geflüchtet und eine so genannte Rentenneurose entwickelt, für deren Folgen sie nicht einzustehen hätten. Im Übrigen haben sie geltend gemacht, der Kläger müsse sich die Betriebsgefahr seines Pkw schadensmindernd entgegenhalten lassen.
Rz. 14
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die bezifferten Klageansprüche (materielle Schäden) dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, dem Kläger über vorprozessual geleistete 5.000 DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von 20.000 DM zugebilligt und die Ersatzpflicht der Beklagten wegen der Zukunftsschäden festgestellt. Mit der Revision erstrebten die Beklagten die Wiederherstellung des klageabweisenden landgerichtlichen Urteils. Sie hatte keinen Erfolg.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 15
Das Berufungsgericht hatte aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen zu Recht eine volle Haftung der Beklagten auch für die hier in Frage stehenden Körperschäden des Klägers nach §§ 823 Abs. 1, 847 BGB bejaht.
Rz. 16
Dass der verstorbene Ehemann und Vater der Beklagten sich grob verkehrswidrig verhalten hatte, als er versuchte, zu Fuß die von schnellen Fahrzeugen beidspurig benutzte Fahrbahn der Bundesautobahn zu überqueren, war außer Streit. Er hatte dadurch den Zusammenprall mit dem Pkw des Klägers verursacht und verschuldet, wobei der Kläger verletzt worden war. Auch die Neurose des Klägers, die zu seinen jetzt noch anhaltenden körperlichen Beschwerden geführt hatte, ist ein ersatzpflichtiger Körperschaden i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB.
Rz. 17
Dabei konnte offen bleiben, ob die Neurose ihrerseits ein Folgeschaden der organischen Verletzung war, oder ob sie unmittelbar durch das Erleben des Unfallgeschehens ausgelöst worden ist; jedenfalls ging sie auf das verkehrswidrige Verhalten des B. zurück. Auch eine nur psychisch vermittelte Gesundheitsstörung ist eine Verletzung der Gesundheit, die dem verantwortlichen Schädiger grundsätzlich zuzurechnen ist, soweit es um die Schädigung des am Unfall selbst Beteiligten geht.
Rz. 18
Nach den Feststellungen im Berufungsurteil gingen die körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers infolge der unfallbedingten Neurose weit über das hinaus, was an Beeinträchtigungen bei Miterleben schrecklicher und seelisch belastender Ereignisse gewöhnlich aufzutreten pflegt und was als zum allgemeinen Lebensrisiko gehörig jedermann ersatzlos zu tragen hat. Jedenfalls in solchen Fällen ist grundsätzlich Schadensersatz zu leisten.
Rz. 19
Der Ersatzanspruch entfiel nicht deswegen, weil der Kläger seelisch besonders labil war und nur deshalb infolge des Unfallereignisses eine Unfallneurose entwickelt hat. Eine solche "schädliche Anlage" beim Geschädigten muss der Schädiger wie auch ...