Rz. 409

Die materiell-rechtliche Frage nach der Zuweisung, der Entziehung bzw. der Ausübung der "elterlichen Verantwortung" (i.S.v. Art. 3 KSÜ; zum Begriff siehe Rdn 394) beurteilt sich nach dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (vgl. Art. 16 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 17 S. 1 KSÜ – d.h. der Daseinsmittelpunkt des Kindes). Erfolgt ein Statutenwechsel durch Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Staat, so wirkt das grundsätzlich ex nunc (vgl. Art. 16 Abs. 3 und 4 bzw. Art. 17 KSÜ).

 

Rz. 410

Art. 19 Abs. 1 KSÜ schützt beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den guten Glauben an die gesetzliche Vertretungsmacht: Die Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts zwischen einem Dritten und einer anderen Person, die nach dem Recht des Staates, in dem das Rechtsgeschäft abgeschlossen wurde, als gesetzlicher Vertreter zu handeln befugt wäre, kann nicht allein deswegen bestritten und der Dritte nicht nur deswegen verantwortlich gemacht werden, weil die andere Person nach dem in den Art. 15 ff. KSÜ (Anzuwendendes Recht) bestimmten Recht nicht als gesetzlicher Vertreter zu handeln befugt war. Etwas anderes gilt dann, wenn der Dritte wusste oder hätte wissen müssen, dass sich die elterliche Verantwortung nach diesem Recht bestimmte. Die Regelung des Art. 19 Abs. 1 KSÜ ist aber nur anzuwenden, wenn das Rechtsgeschäft unter Anwesenden im Hoheitsgebiet desselben Staates geschlossen wurde (Art. 19 Abs. 2 KSÜ).

 

Rz. 411

Nach Art. 20 KSÜ sind die Vorgaben über das anwendbare Recht selbst dann anzuwenden, wenn das darin bestimmte Recht das eines Nichtvertragsstaates ist (Wirkung des KSÜ als loi uniforme).[554]

 

Rz. 412

Nach Art. 21 Abs. 1 KSÜ ist eine Rück- und Weiterverweisung grundsätzlich ausgeschlossen (Ausschluss des renvoi), womit Vereinbarungen nach dem KSÜ Sachnormverweisungen sind.[555] Der Begriff "Recht" i.S.d. Art. 15 ff. KSÜ (Anzuwendendes Recht) meint das in einem Staat geltende Recht mit Ausnahme des Kollisionsrechts. Davon macht jedoch Art. 21 Abs. 2 KSÜ im Hinblick auf die Weiterverweisung insoweit eine Ausnahme[556] für den Fall, dass das nach Art. 16 KSÜ anzuwendende Recht das eines Nichtvertragsstaates (Drittstaates) ist und das Kollisionsrecht dieses Staates auf das Recht eines anderen Nichtvertragsstaates verweist, der sein eigenes Recht anwenden würde.[557] Dann ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Betrachtet sich das Recht dieses anderen Nichtvertragsstaates als nicht anwendbar, so ist das nach Art. 16 KSÜ bestimmte Recht anzuwenden.

 

Rz. 413

Die Anwendung des nach Maßgabe der Art. 15 ff. KSÜ anzuwendenden Rechts darf gem. Art. 22 KSÜ nur versagt werden, wenn sie der öffentlichen Ordnung (ordre public) "offensichtlich widerspricht", wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist.

 

Rz. 414

Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit wenden die Behörden der Vertragsstaaten nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ ihr eigenes Recht an. Soweit es der Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes erfordert, können sie jedoch ausnahmsweise nach Art. 15 Abs. 2 KSÜ auch das Recht eines anderen Staates anwenden oder berücksichtigen, zu dem der Sachverhalt eine enge Verbindung hat. Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einen anderen Vertragsstaat, so bestimmt gem. Art. 15 Abs. 3 KSÜ das Recht dieses anderen Staates vom Zeitpunkt des Wechsels an die Bedingungen, unter denen die im Staat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts getroffenen Maßnahmen angewendet werden. Vorbehaltlich des Art. 7 KSÜ sind nach Art. 5 Abs. 2 KSÜ bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen anderen Vertragsstaat die Behörden des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts zuständig.

[554] So Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, § 20 XI. 5. b).
[555] Bamberger/Roth/Heiderhoff, Art. 21 EGBGB Rn 24.
[556] "Seltsame Ausnahme", die schon in Art. 4 des Haager Erbrechtsabkommens von 1988 benutzt worden ist: Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, § 20 XI. 5. b).
[557] Näher Gruber, StAZ 2011, 65, 68.

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