Rz. 44
Ein Unterhaltspflichtiger hat grundsätzlich den Mindestunterhalt seiner Kinder sicherzustellen. Ein geringerer Unterhalt ist nur dann gerechtfertigt, wenn der Unterhaltspflichtige trotz aller erdenklichen Anstrengungen kein höheres Einkommen erzielen kann. Hierfür ist der Unterhaltspflichtige darlegungs- und beweispflichtig. Unter Umständen sind dem Unterhaltspflichtigen fiktive Einkünfte zuzurechnen. Die Frage, ob und in welcher Höhe fiktive Einkünfte angesetzt werden können ist in vielen Unterhaltsprozessen ein zentraler Streitpunkt.
Der Unterhaltsschuldner muss seine Erwerbsmöglichkeiten nutzen. Von ihm darf aber nichts "Unmögliches" verlangt werden.
Ausgangspunkt ist also: Tatsächliche Einkünfte (und Vermögen) sind überhaupt nicht oder nicht ausreichend vorhanden, um den Mindestunterhalt sicherzustellen.
Gegenüber Minderjährigen besteht nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB eine gesteigerte Leistungsverpflichtung – sofern nicht die Subsidiaritätsklausel des § 1603 Abs. 2 S. 3 BGB eingreift, siehe hierzu die Fälle 8 und 9 Rdn 111 ff. – d.h. eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit.
Die gesteigerte Erwerbsobliegenheit besteht auch gegenüber den nach § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB privilegierten volljährigen Kindern.
Reichen die tatsächlichen Einkünfte des Unterhaltspflichtigen nicht aus, so trifft ihn unterhaltsrechtlich die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen, insbesondere seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einzusetzen und eine ihm mögliche Erwerbstätigkeit und Nebentätigkeit auszuüben. Eine Verletzung dieser Erwerbsobliegenheit führt zum Ansatz fiktiver Einkünfte.
BGH, Beschl. v. 9.11.2016 – XII ZB 227/15 Tz. 18
Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen bestimmt sich in erster Linie nach dem von ihm erzielten bzw. nach dem ihm möglichen und in zumutbarer Weise erzielbaren Einkommen (vgl. Urt. v. 9.7.2003 – XII ZR 83/00, FamRZ 2003, 1471, 1473). Den Unterhaltspflichtigen trifft grundsätzlich eine Obliegenheit zur vollschichtigen Erwerbstätigkeit (Beschl. v. 10.7.2013 – XII ZB 297/12, FamRZ 2013, 1558 Rn 12 ff.; Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Aufl., § 1 Rn 736). Erfüllt er seine Erwerbsobliegenheit nicht, ist ihm ein fiktives Einkommen in Höhe des aus einer ihm möglichen und zumutbaren Tätigkeit erzielbaren Verdienstes zuzurechnen (Urt. v. 9.7.2003 – XII ZR 83/00, FamRZ 2003, 1471, 1473; Wendl/Klinkhammer, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Aufl., § 2 Rn 245).
Bei der Verletzung der Erwerbsobliegenheit sind im Weiteren zwei Fälle zu unterscheiden, nämlich, ob die Aufgabe der Beschäftigung leichtfertig war oder nicht.
a) Leichtfertige Aufgabe einer Beschäftigung
Rz. 45
Bei leichtfertiger Aufgabe einer Beschäftigung ist das bisherige Einkommen weiterhin anzusetzen.
Wurde der Arbeitsplatz leichtfertig aufgegeben, ist zu klären, ob die Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt aus hinnehmbaren Gründen ohnehin verloren worden wäre. Dies ist im laufenden Verfahren (z.B. Schließung des früheren Beschäftigungsbetriebes ist bereits absehbar) oder im Rahmen eines Abänderungsverfahrens (z.B. Betrieb schließt nach Jahren) geltend zu machen. Dies ändert freilich nichts an der allgemeinen Erwerbsobliegenheit.
b) Berufstätigkeit nicht leichtfertig aufgegeben
Rz. 46
Wurde eine zuvor ausgeübte vollschichtige Berufstätigkeit nicht leichtfertig aufgegeben (typischer Weise die Arbeitgeberkündigung), verlangt die Berücksichtigung fiktiver Einkünfte:
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das Fehlen ausreichender Bemühungen um einen Arbeitsplatz und |
▪ |
die Feststellung, dass er unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände (Gesundheit, Alter, Ausbildung und Berufserfahrung) Einkünfte in der fiktiv zurechenbaren Höhe tatsächlich erzielen könnte (realistische Beschäftigungschance). |
Der BGH formuliert üblicherweise:
BGH, Beschl. v. 18.3.2020– XII ZB 213/19 Rn 41
Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber allerdings verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden (sog. gesteigerte Unterhaltspflicht). Darin liegt eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht.
Aus diesen Vorschriften und aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt auch die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft.
Wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden.
Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, setzt neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäft...